Laiendarsteller liefern die Spielszenen zu Originalzitaten aus dem Off. Stefan Ruzowitzky hat in "Das radikal Böse" aber auch historisches Filmmaterial eingewoben. 

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Wien - Als er mit seinen Studien über die Massenerschießungen deutscher Einsatzkommandos im Zweiten Weltkrieg begann, berichtet der renommierte "Psychohistoriker" Robert Jay Lifton, hätten ihm Freunde davon abgeraten. Er würde sich dem Vorwurf aussetzen, das Böse zu relativieren und die Täter aus ihrer Verantwortung zu entlassen. "Ich habe trotzdem weitergemacht, weil ich glaube, dass wir versuchen müssen, zu verstehen, warum gemordet wurde." Dennoch dürfe man bei der Erforschung psychologischer Motive von Genoziden etwas nicht vergessen: die Frage nach der Moral.

Sechs Jahre nach seinem oscarprämierten Spielfilm Die Fälscher hat sich Stefan Ruzowitzky in Form eines "Non-Fiction-Dramas" erneut dem Holocaust gewidmet und beschäftigt sich in Das radikal Böse mit der Frage, wie "normale" Soldaten zu Massenmördern werden konnten.

Doch wie weit kann das Kino die unvorstellbaren Taten der NS-Mörder überhaupt erklären? Liegt die sogenannte Macht der Bilder doch auch darin, eben nicht alles zu sehen - weshalb etwa Claude Lanzmann in Sobibor das Schreien der Gänse im ehemaligen Vernichtungslager in Todesstille übergehen ließ. Denn etwas gezeigt zu bekommen heißt lange noch nicht, es erfassen zu können.

Hannah Arendt beschrieb das "radikal Böse", auf das sich Ruzowitzky bezieht, als "das, was nicht hätte passieren dürfen und womit man sich nicht versöhnen kann". Dieser Problematik ist sich auch Ruzowitzky bewusst und wählt für Das radikal Böse mehrere Darstellungsformen: Während man Originalzitate aus Briefen, Tagebüchern und Protokollen hört, in denen die Mörder über ihre Taten, aber auch über private Dinge berichten, sieht man Laiendarsteller in NS-Uniformen diese Berichte aus dem Off "nachspielen". Diese Nachstellung, die - selbstverständlich - nicht bis zu den tatsächlichen Morden reicht (die werden jedoch in Archivaufnahmen nachgereicht), wird ergänzt durch Interviews mit Sozialpsychologen und Psychiatern sowie historischem Filmmaterial: Man sieht vorbeiziehende junge Soldaten, lachende Männer auf Panzern, Artillerieschlachten, aber auch private Aufnahmen vom glücklich im Heu spielenden Nachwuchs, wenn von der Ermordung jüdischer Kinder berichtet wird: "Ich selbst war in der glücklichen Lage, zumindest keine Säuglinge erschießen zu müssen."

Hörigkeit und Verbrechen

Am deutlichsten auf eine mögliche Erklärung zielt Ruzowitzkys Nachinszenierung bekannter psychologischer Tests ab: Aber lassen Versuchsreihen wie das Milgram-Experiment, mittels deren Gehorsam und Hörigkeit untersucht wurden, tatsächlich Rückschlüsse auf Kriegsverbrechen zu? Das Leben sei geprägt von Gehorsamsdenken, erklärt ein Psychologe. Für die Mörder hätten daher zum Zeitpunkt der Tat bereits ihre Vorgesetzten Verantwortung und Rechtfertigung übernommen.

Mit seinem Versuch, das "Unmögliche" darzustellen, reiht sich Das radikal Böse in eine Reihe aktueller Dokumentarfilme von Rithy Panh (L' image manquante) und Joshua Oppenheimer (The Act of Killing) ein, die auf unterschiedliche Art nach Möglichkeiten suchen, von den Massenmorden in Kambodscha und Indonesien zu berichten. Um diese "fehlenden Bilder" zu zeigen, ließ Panh kleine Tonfiguren anfertigen, bei Oppenheimer spielen die sich auf freiem Fuß befindlichen Täter gar ihre eigenen Verbrechen nach.

Ruzowitzky hingegen entscheidet sich für den Versuch einer Erklärung. Mögliche Ursachen und Umstände ordnet er in Kapitel wie "Autoritäre Strukturen" oder "Distanz zum Opfer". Die Schwäche der filmischen Untersuchung ist die Illustrierung psychologischer Motive: Wiederholt blicken Statisten während des "Kriegsspiels" direkt in die Kamera, während Ruzowitzky mittels Split-Screen-Technik Archivbilder des Mordens zeigt. Es sind Männer, die auf Zuschauer starren - und diese direkt ins Visier nehmen. (Michael Pekler, DER STANDARD, 17.1.2014)