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Alleinerziehende Mütter fallen am leichtesten unter die Armutsgrenze
Foto: REUTERS/JACQUELINE GODANY
Mira lebt mit ihren beiden Geschwistern und ihrer Mutter Andrea im Mutter-Kind-Haus der Caritas in Wien. Früher wollte sie dort gar nicht hin. Viel lieber wollte sie im Kinderheim bleiben: "Ich komm' nie wieder zurück, weil ich hab' hier eine Freundin", sagte die Elfjährige damals zur Mutter, die nach der Trennung von ihrem Mann eine Therapie machte. "Wäre sie dabei geblieben, hätte ich sie nicht wiederbekommen", meint die Mutter. Tochter Mira überlegte es sich anders.

"Eine Mutter, die mit Existenzängsten kämpft und selbst in einer Krise ist, kann ihren Kindern oft nicht genug Sicherheit bieten", meint Clementine Rath, die Leiterin des Mutter-Kind-Hauses. Rath unterstützt allein stehende Mütter dabei, ihre Kinder großzuziehen und wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Die Frauen sind in Wohnungsnot geratene Österreicherinnen oder Migrantinnen. Die meisten haben Einkommen unter der Armutsgrenze.

Miras Mutter Andrea schenkt Hollersaft nach. "Derzeit bin ich arbeitsunfähig geschrieben, aber es geht mir nicht so schlecht, weil mein Mann Alimente zahlt", sagt sie. Mit diesen 652 Euro plus der Differenz der Sozialhilfe auf den Richtsatz für drei Kinder (340 Euro) käme sie "ganz gut" über die Runden. Minus den Beitrag für die Wohnung im Mutter-Kind-Haus "habe ich etwa 800 Euro zur Verfügung", formuliert die gelernte Kindergärtnerin. Sparen dürfe sie allerdings rein von Gesetzes wegen nichts, weil Eigenvermögen mit der Sozialhilfe gegengerechnet wird. Wie sie also zu ihrer eigenen Wohnung kommen solle, sei ihr schleierhaft. 880.000 Menschen in Österreich gelten nach dem jüngsten Sozialbericht von 1998 als armutsgefährdet - das sind 13 Prozent. Ihr gewichtetes Pro-Kopf-Haushaltseinkommen liegt unter 60 Prozent des Mittelwertes oder bei 780 Euro monatlich - sie leben also mit einem "Einkommensrisiko". "Wenn noch zusätzliche Belastungen zu tragen sind wie Schulden oder wenn man keine neuen Kleider kaufen oder mindestens einmal im Monat Gäste bei sich zu Hause zum Essen einladen kann, gilt man als akut arm", erklärt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Sprecher der Armutskonferenz: Neben materieller Armut sei man dann "von wesentlichen Aspekten des sozialen und gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen" - hat also weder Kapital noch Kontakte. Vier Prozent oder 313.000 Personen sind betroffen.

Tendenz steigend

Die Tendenz sei "gefühlsmäßig steigend", meint der Wiener Sozialstatistiker Matthias Till, der das Europäische Haushaltspanel mitkonzipierte. "Extreme Armut liegt unter der statistischen Nachweisbarkeit", meint Till - aber die Zahl derer, die bei karitativen Einrichtungen um Hilfe ansuchen, sei gegenüber 1997 um ein Viertel gestiegen. Zudem wird die Sozialhilfe, das "Frühwarnsystem" für den Arbeitsmarkt, massiv stärker in Anspruch genommen: Allein in Wien hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 31.467 im Jahr 1995 auf 67.211 2002 verdoppelt. Im Wiener Obdachlosenheim Gruft manifestiert sich das so: "Auch Leute, die eine Wohnung haben, kommen jetzt zu uns zum Essen", sagt Sozialarbeiterin Susanne Peter. Zu den am meisten betroffenen Gruppen gehören Alleinerzieherinnen und ihre Kinder. Von den 880.000 armutsgefährdeten Menschen sind 227.000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren. 87.000 von ihnen sind akut arm: "Das liegt über dem Durchschnitt zur Gesamtbevölkerung", konstatiert der Sozialexperte Schenk. Denn Alleinerzieherinnen haben oft mehrere "McJobs" - sei es aus Mangel an Qualifikation oder aus der Hoffnung heraus, dass ihnen flexible Arbeitszeiten genug Zeit für die Kinder lassen. Dabei aber kommen sie mehr schlecht als recht über die Runden. Auch im Mutter-Kind-Haus sei der Andrang "extrem gestiegen: Ich habe sechs bis acht Anfragen die Woche, die ich abweisen muss", sagt Leiterin Rath.

Scham verdeckt Armut

"Armut ist etwas, was viele nicht sehen", meint Schenk: Die Leute sind oft noch gut angezogen, obwohl sich die Schuldenberge türmen." Für viele sei es schon blamabel, wenn ihre Kinder keine Handys besäßen, daher "versuchen sie die Fassade aufrechtzuerhalten." Man kaufe also zum Beispiel den Kindern die richtigen Turnschuhe, verzichte aber dafür auf ausgewogene Nahrung (siehe auch nebenstehendes Interview).

Andrea sieht der Zukunft schon mit Sorge entgegen. Ihre Tochter Mira streift versonnen durch die mit Secondhandmöbeln ausgestattete 40-Quadratmeter-Wohnung: Sie träumt schon von einer neuen, "weil man hier keine Haustiere haben kann", sinniert die Elfjährige. Die Kleiderspenden der Caritas würden es wohl auch nicht mehr lange tun, meint Andrea. Im Herbst macht sie einen Kurs beim Arbeitsmarktservice. (Eva Stanzl, Irene Brickner, DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 14./15.8.2003)