Geld im Übermaß - da bleibt auch etwas für die kleinen Fische: Leo DiCaprio als Jordan Belfort in Martin Scorseses wilder Kapitalismus-Allegorie "The Wolf of Wall Street". 

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Wien - Die Krise der Finanzwelt stellt auch das Kino vor besondere Herausforderungen. Mit tradierten Erzählformen lassen sich das hochkomplexe Zusammenspiel von Markt und Börsen sowie die kriminellen Energien, die darin wirksam werden, kaum bewältigen. Die besten Filme der letzten Jahre schlugen den Weg der Verknappung ein: J. C. Chandors Kammerspiel Margin Call verkürzt das Geschehen zu einer langen Nacht im Inneren einer Bank, bei der die Katastrophe verhindert werden soll. In David Cronenbergs Don-DeLillo-Adaption Cosmopolis wird die abgekoppelte Triebwelt eines Brokers ins Innere einer Limousine gezwängt.

Eine gänzlich gegensätzliche Route schlägt Martin Scorsese in seinem außergewöhnlichen Film The Wolf of Wall Street ein. Er bezieht sich zwar nicht auf die Geschehnisse von 2008, muss aber trotzdem wie ein Kommentar dazu gelesen werden. Die Geschichte von Aufstieg und Fall des Brokers Jordan Belfort, auf dessen Autobiografie das Drehbuch von Terence Winter aufbaut, inszeniert der Italoamerikaner als eine schillernde Allegorie ausbeuterischen Unternehmertums, in der Raffgier mit einem unglaublich ausschweifenden Lebensstil einhergeht. Und das vermeintlich Verwerfliche daran: Belfort und seine Komplizen haben immenses Vergnügen an ihrem Tun.

In den USA hat dies die Kritik so tief gespalten wie zuletzt kaum ein anderer Film. Doch gerade die moralische Entrüstung über einen Film, dem nicht am Moralisieren liegt, greift zu kurz. Schon Gordon Gekko, der Held von Oliver Stones simpler ausgerichtetem Wall Street, wurde von Brokern als Vorbild verehrt, darunter auch vom realen Belfort. Scorsese zielt in drei Stunden über solches Verkürzungen hinaus, indem er seinem von Leonardo DiCaprio bravourös verkörperten Helden sogar das (Erzähl-)Steuer in die Hand drückt. Das lässt den Film, durch den er in erster Person, mitunter seine eigenen Taten kommentierend, führt, unzuverlässig erscheinen; es liefert ihm aber auch alle Freiheiten der Travestie.

Wie schon die Hauptfigur aus Casino, an den The Wolf of Wall Street nicht nur in der Erzählperspektive erinnert, ist Belfort bezeichnenderweise ein Außenseiter in seinem Fach, der sich an der Wall Street nicht dauerhaft bewähren kann. Sein Geld machte er in den 1980er-Jahren ursprünglich von New Jersey aus, indem er im rasant wachsenden Unternehmen Stratton Oakmont skrupellos mit Penny-Stock-Wertpapieren spekuliert - Aktien, die den Brokern aus New York zu mickrig erscheinen. Deren großer, zukunftsweisender Vorteil liegt im Fehlen von Regulierungen.

Underdogs von der Straße

Scorsese erzählt Belforts Karriere als ausgelassenes Gaunerstück, sprunghaft und voll dreister Intermezzi. Komik kommt nicht zuletzt durch den Underdog-Status der beteiligten Personen auf, bodenständigen, leicht dubiosen Mitarbeitern, die Belfort von der Straße weg engagiert und die ihm den amerikanischen Traum eines "self-made millionaire" verwirklichen helfen und dabei nie die Gefolgschaft verweigern. Vor allem Jonah Hill liefert eine großartige Performance als sein erster und engster Gefährte, dem verhaltensauffälligen Donnie Azoff, mit dem er längst nicht nur die Arbeitsagenden teilt.

Doch weit mehr als für die Details des Treibens interessiert sich The Wolf of Wall Street für den Lebensstil dieser Geschäftsleute, den der Erfolg zum dauerhaften Exzess steigert. Das Ausmaß des Drogenkonsums und der sexuellen Eskapaden übertrifft alle diesbezüglichen Erwartungen. Es ist nicht das erste Mal, dass Scorsese die triebhaften Energien hinter den Machenschaften seiner Protagonisten freilegt; in diesem Fall ist das Handeln jedoch derart phallozentriert, dass die kapitalistische Arbeitswelt wie ein modernes Babylon erscheinen muss.

"Kokain, Prostituierte und mindestens zweimal täglich Masturbation", lautet das am Anfang des Films von Matthew McConaughey als Börsenhai preisgegebene Geheimnis seines Erfolgs. Belfort erweist sich als gieriger Schüler, er wird zum Apostel eines vulgären Verschwendertums, der auch in der mutwilligen Zerstörung von Luxusgütern wie Lamborghinis, Yachten und Helikoptern seinen sinnträchtigen Ausdruck findet.

Scorseses stilistische Eskapaden, von Rodrigo Prietos bewegungssüchtiger Kamera bis zu den mitunter diskontinuierlichen Schnittfolgen, scheinen diese Überwältigungs- und Übersättigungslogik noch zu verstärken - bis zur grandiosen Groteske, wenn sich Belfort und Azoff unter der Wirkung von Quaaludes nicht mehr verständigen können.

Hat Martin Scorsese mit diesem Film ein Sittenbild unserer Zeit geschaffen? Ja, aber eines, in dem es keine Schuldentilgung gibt - das reale Vorbild kam nach 22 Monaten wieder aus dem Gefängnis frei. Am Ende herrscht so etwas wie Ernüchterung, ein übler Kater wie nach einer langen, durchzechten Nacht. Scorsese mag zu wenig Distanz zu seinem Protagonisten einnehmen und der Zuschauer mit jener zu einem einnehmenden Star seine Not haben; doch menschlichen Schwächen kommt man auch näher, wenn man sie kurzfristig zu den seinigen macht. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 15.1.2014)