Ausstellung der Malerin Natalia Gontscharowa in der Moskauer Tretjakow-Galerie am Gorki-Park.

Foto: Michael Freund

Michail Larionows Porträt von Natalia Gontscharowa.

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Barbara Klemm: Leonid Breschnew, Willy Brandt, Bonn, 1973.

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Barbara Klemm: Mick Jagger, Frankfurt am Main, 1970.

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Barbara Klemm: Gregor Gysi, Bärbel Bohley, Ulrich Mühe, Heiner Müller, Demonstration Berlin-Ost, 4. November 1989.

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Barbara Klemm: Alfred Hitchcock, Frankfurt am Main, 1972.

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Die Malerin Natalia Gontscharowa in Moskau, die Fotografin Barbara Klemm in Berlin: zwei Meisterinnen in ihrem jeweiligen Metier, gewürdigt in zwei Metropolen. Das ist zunächst nicht mehr als ein Zufall der Kulturkalender. Doch es zeigt wie nebenbei auch verschiedene Auffassungen, wie produktives künstlerisches Schaffen rückblickend eingeordnet werden kann. Vorweg gesagt: Wer zufällig oder gezielt in den nächsten Wochen an einem der Orte oder an beiden sein wird – die Ausstellungen lohnen sich.

Wegbereiterin der Avantgarde

Natalia Gontscharowa, 1881 im russischen Bezirk Tula geboren, gilt als eine Wegbereiterin der russischen Avantgarde. Die Schau, die zurzeit in der Moskauer Tretjakow-Galerie am Gorki-Park, dem Museum für russische Kunst des 20. Jahrhunderts, läuft, zeigt jedoch ein viel breiteres und umfangreicheres Schaffen als "nur" die innovativen Anstöße. Im Wesentlichen chronologisch arrangiert, stellt sie die Künstlerin in unterschiedlichsten, fast widersprüchlich scheinenden Phasen und Stilen vor.

Als noch nicht Dreißigjährige hatte sie bereits Selbstporträts, Plein-Air-Landschaften und erste Stillleben gemalt und wandte sich religiösen Motiven zu. Im Stil alter russischer Drucke, aber in kräftigen Farben produzierte sie nun vor allem Ikonen und abstrahierende florale Motive. In den 1910er-Jahren, als sie den Maler Michail Larionow kennenlernte, kamen entscheidende Impulse dazu. Wie eine Explosion an Kreativität mutet an, was die Tretjakow-Galerie versammelt hat: In Porträts arbeitete sie Zeitungsausschnitte hinein, in die Stillleben alte Hüte und Besenstile. Sie nahm Anleihen beim Kubismus und beim Futurismus, beim Blauen Reiter in München (mit dessen Mitgliedern sie auch ausstellte), sie illustrierte Bücher und Plakate, sie gehörte den ersten Avantgarde-Klubs Moskaus an und konzentrierte sich auf die russischen Wurzeln ihrer Kunst, während sie die westeuropäischen Entwicklungen weiter verfolgte. "Die Leere" (1913), ein Bild, deren Mitte in ein weißes Nichts verläuft, mutet rückblickend wie ein Vorläufer zum noch radikaleren "Schwarzen Quadrat" an, das Malewitsch zwei Jahre später malte.

Der entscheidende Einschnitt in ihrem Schaffen dürfte ein Paris-Besuch kurz vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein. Von den Produktionen der Ballets Russes waren Larionow (der übrigens einen ganzen Saal der ständigen Tretjakow-Sammlung füllt) und sie so angetan, dass sie beschlossen, nach Frankreich zu ziehen.

Ein Großteil der Moskauer Ausstellung zeigt Gontscharowas Arbeiten seither. Sie reichten von monumentalen Landschaften bis zu Textilentwürfen für Modehäuser, mit Beispielen der von ihr mitentwickelten "Strahlkunst", des Rayonismus, und der vielen Arbeiten fürs Theater, das sie nie ganz losließ. Beim Rundgang glaubt das Besucher sich in einer Schau mehrerer Künstler, die mit unterschiedlichen Mitteln, sehr verschiedenen Graden an Expressivität und je eigenem Verständnis von Farb- und Perspektivewirkungen tätig waren.

Doch es war immer die eine. Sie wurde im Westen wie in der Sowjetunion ausgestellt und nach dem stalinistischen Frost wieder anerkannt, sie wurde (wie die Adressen der Leihgeber zeigen) international gesammelt, und sie bekannte sich zu ihren russischen Wurzeln. Doch sie zog nie wieder zurück. 1962 starb sie in Paris.

Dennoch reklamiert die Schau sie, unter dem Titel "Gontscharowa – zwischen Osten und Westen", für Ersteres, für Russland. Die Einführung zu Beginn will klarstellen, dass sie vor allem eine Botschafterin ihrer Heimat war. Im Zusammenhang mit anderen gegenwärtigen Bemühungen um die Russifizierung auch der Kulturgeschichte lässt die Zuordnung zumindest Zweifel aufkommen – gerade wenn man sich die Emigrationsgeschichte der Gontscharowa vor Augen hält.

Prominente Bildchronistin

Barbara Klemm, 1939 in Münster geboren, hat als Zwanzigjährige in einem Job begonnen, der sie nicht mehr losließ. Zunächst in der Dunkelkammer, dann hinter der Kamera war sie bis 2005 als Fotografin für die "Frankfurter Allgemeine" tätig, im Laufe der Jahre wurde sie zur prominentesten Bildchronistin der Zeitung. Zu Recht, wie die Personale im Martin-Gropius-Bau nahe am Potsdamer Platz belegt.

Klemm hat Ereignisse der Zeitgeschichte festgehalten und auch Vieles am scheinbaren Rande, das genauso aussagekräftig war. Ob die Staatschefs Willy Brandt und Leonid Breschnew in Bonn 1973, umgeben von Beratern und Übersetzern (eines ihrer Bilder, die sehr schnell Symbolcharakter erhielten) oder ein Gitarre spielender urbaner Cowboy in enger Badehose an einer New Yorker Straßenkreuzung: Ihre Bilder sind präzise, unaufgeregt, stets durchkomponiert, als hätte sie von langer Hand geplant (wo es doch offensichtlich schnell schnell gehen musste).

Klemm ist bis heute der analogen Technik treu geblieben und dem Schwarzweißfilm. Den Reiz dieses früher unumstrittenen Dokumentarmediums zeigen die rund 300 Exponate augenfällig. Die Prints sind in den Hallen der Ausstellung oft ihren Abdrucken in der "FAZ" gegenübergestellt – für manche bleibt, wie der Katalog bemerkt, "der Druck das Original", und in ihrer Gesamtheit stellen die Bilder "das fotografische Gedächtnis der Bundesrepublik" dar. Das weniger Schwergewichtige kommt dann vor allem in ihren Arbeiten nach der Zeitung zum Tragen; die Schau geht bis in die Gegenwart, mit Bildern vor allem von Straßenszenen, Landschaften, fast immer aber mit Menschen als Maßstab.

Würde sie heute mithalten wollen mit der Instant-Welt der digitalen Bilder? Nein, sagt sie im Begleittext, "es gibt nicht mehr das wichtige Bild in einer Zeitung. Man bleibt auch nicht mehr an Einzelbildern hängen. Es gibt immer mehr Fotos, aber das Erleben wird dadurch nicht intensiver."

Das Sympathische an der Schau in Berlin: Klemm wird von niemanden und für nichts vereinnahmt. Die Zeitung war zwar Auftraggeber und ist damit der sozusagen naturgegebene Hintergrund, sie bleibt aber auch dort. Die Fotografin muss weder für West gegen Ost noch für Analog gegen Digital herhalten. Was bleibt, ist die Konzentration auf einen reichen dokumentarischen Fundus. Zeitgeschichte, die ernst genommen wird. (Michael Freund, derStandard.at, 13.1.2014)