Ankara - Cemil Çiçek hatte einen guten Tipp für die Abgeordneten: "Das Erste, was sich der Justizausschuss anschauen sollte, ist die Vereinbarkeit dieses Gesetzesentwurfs mit der Verfassung", sagte Çiçek, ein kleiner Mann aus Anatolien mit kugelrundem Kopf.

Sein freundliches Gemüt leidet arg in diesen Tagen: Çiçek, der türkische Parlamentspräsident und offiziell die Nummer zwei im Staat, zieht gegen seinen langjährigen politischen Freund, Regierungschef Tayyip Erdogan, ins Feld. Das geplante Gesetz zur Kontrolle der Justiz macht Çiçek fassungslos. "Was für ein Rechtsstaat ist das hier?", poltert der 67-Jährige los. "Wir lassen das Gesetz auf der einen Seite und diskutieren, was immer uns politisch nützt".

Im Justizausschuss fliegen dann später die Wasserflaschen und Fäuste. Auch ein Tablet-Computer soll unter den Wurfgeschoßen gewesen sein, berichten Augenzeugen der Ausschusssitzung im türkischen Parlament am vergangenen Wochenende.

Neuer Schachzug

Bekir Bozdag, der Vizepremier und neue Justizminister, ein "Erdoganist", der nicht wackelt, ist auch in der Sitzung. Man könne auf das Gesetz auch verzichten, sagt er gerissen, wenn sich die Parteien auf einen Kompromiss einigen. Danach sieht es nicht gerade aus. Und Bozdag weiß das.

Sein Versuch, per Gesetz die türkische Verfassung zu ändern, den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (s. Wissen) unter die Kontrolle des Justizministeriums zu bringen und damit die Korruptionsermittlungen abzuwürgen, sät Panik unter den Abgeordneten der Regierungspartei. Wie viel Rückhalt Tayyip Erdogan, der seit elf Jahren und mit zunehmend harter Hand regierende Premier, im Moment in seiner konservativ-religiösen AKP hat, ist nicht mehr klar. Das Erdogan-Lager bröckelt.

Vergangene Woche, am Mittwoch, erschienen nicht genug AKP-Abgeordnete im Plenum. Das Parlament war nicht beschlussfähig. Alles kein Zufall.

Am Morgen um halb sechs, nach einer Woche Ostasienreise, bestellt Erdogan seine engsten Minister zum Flughafen Atatürk in Istanbul. Es ist zu früh, um Parteivolk zu organisieren und zum Jubeln wieder mit Bussen an das Rollfeld zu schaffen.

Dafür bespricht Erdogan in einer Lounge am Flughafen eine Stunde lang die Entwicklung der Korruptionsaffären, die seine Regierung ins Trudeln bringen. Auch Gouverneur und Bürgermeister von Istanbul sind dabei. Ende März stehen die Kommunalwahlen an. Der Verlust der Millionenmetropole Istanbul, wo Erdogans Karriere begann, würde wohl den Niedergang seiner Herrschaft besiegeln. Auf 42,3 Prozent soll die Zustimmung für Erdogans AKP gesunken sein laut der Umfrage eines als oppositionsfreundlich geltenden Instituts; siebeneinhalb Prozentpunkte hätte die Partei demnach seit dem Sieg bei den Parlamentswahlen 2011 verloren. Bei Gemeinderatswahlen schneidet sie erfahrungsgemäß schwächer ab.

Großflächige Plakate mit Erdogans Konterfei, die den "festen Willen" des Volkes verkünden, pflastern nun Istanbul. Die Affäre um die Korruptionsermittlungen geht in ihre vierte Woche. Erdogan wird versuchen, mit seiner Rede vor den Abgeordneten seiner Fraktion, die er am Dienstag hält, die Änderung des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte durchzupauken. Doch auch wenn er eine Mehrheit für den Parlamentsbeschluss bekommt, wartet die nächste Hürde auf ihn: Staatschef Abdullah Gül muss das Gesetz unterschreiben. Und auch das scheint unsicher. (Markus Bernath, DER STANDARD, 13.1.2014)