Von New York aufs Baumwollfeld: Der eindrucksvolle Chiwetel Ejiofor als Solomon Northup in "12 Years a Slave".

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Steve McQueen: "Manchmal geschehen die schrecklichsten Dinge an den schönsten Orten. Das ist die Perversion des Lebens."

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STANDARD: Sie haben schon länger über einen Film nachgedacht, der sich mit Sklaverei beschäftigt. Dann stießen Sie auf Solomon Northups Buch von 1853. Warum fanden Sie die Erzählung so stark?

Steve McQueen: Es waren zuallererst die Details. Die Genauigkeit, mit der beschrieben wird, was ihm widerfahren ist. Überhaupt sind es Details, die mich meistens fesseln - sie sind der Rahmen für die große Erzählung. Als mich meine Frau auf das Buch aufmerksam machte, war es für mich wie eine Offenbarung, weil es all die Informationen enthält, die ich mir nie hätte ausdenken, nie hätte filmen können. Nach der Lektüre war ich betrübt. Ich dachte, jeder würde diese Geschichte kennen: Wozu also noch einen Film machen? Dann stellte sich aber heraus, dass niemand, den ich kannte, von Solomon Northup gehört hatte.

STANDARD: Wie konkret war Ihr Projekt denn davor schon?

McQueen: Die Erzählung war ganz ähnlich! Auch ich wollte die Geschichte eines freien Mannes erzählen, der gefangen und in den Süden in die Sklaverei verschleppt wird. Manchmal wird man zu einem Magneten, und Dinge, die man sucht, fallen einem in die Hände: Es war wie ein fertiges Drehbuch.

STANDARD: Sie haben schon erwähnt, dass die Hauptfigur zunächst frei ist. Er ist ein gebildeter Mann, Teil der Gesellschaft. In der Sklaverei wird ihm genau dies aber zur Bürde, nicht wahr?

McQueen: Oh ja, er muss still sein. Er muss diese Seite verbergen. Zu dieser Zeit kam es schon fast einem Todesurteil gleich, wenn man als Sklave lesen und schreiben konnte.

STANDARD: In "12 Years a Slave" gibt es nicht nur einen Gegenspieler, sondern gleich mehrere, was die Gewalt struktureller erscheinen lässt. Wie sind Sie an diese Vielfalt der Formen herangegangen?

McQueen: Lassen Sie mich es in einem visuellen Sinne beantworten, indem ich Ihnen etwas über Kostüme und Ausstattung erzähle. Patricia Norris, die Kostümbildnerin, hat Erdproben von allen Plantagen genommen und sie mit der Kleidung kombiniert. Mein Art-Director Adam Stockhausen und mein Kameramann Sean Bobbit haben sich über die Figuren unterhalten, über die Frage, wie die Plantage die jeweilige Persönlichkeit ihres Besitzers wiedergibt. Die Plantage von Michael Fassbenders Figur Epps hat einen Schweinestall - ganz säuberlich arrangiert liegt er hinter dem Haus und all der Eleganz. Ford hat diesen sehr lieblichen Garten mit Rosenbüschen, die seinen sogenannten Liberalismus widerspiegeln.

STANDARD: Denken Sie immer so stark von den Räumen aus?

McQueen: Man muss versuchen, die Figuren für den Zuschauer schnell bildlich verständlich zu machen. Sie müssen kapieren, wer sie sind, aber auf sublime Weise.

STANDARD: Über Ihr Debüt "Hunger" haben Sie einmal gesagt, Sie möchten den Zuschauer immer an seine eigene Präsenz erinnern. Gilt das in "12 Years a Slave" noch auf dieselbe Weise?

McQueen: Es ist vielschichtiger, komplexer geworden. In 12 Years a Slave gibt es mehr Erzählstränge und Figuren. In Hunger und Shame ist alles an einer Person aufgehängt, die durch eine bestimmte Situation geht. Hier ist es zwar auch ein Individuum, aber es gibt mehr Sensibilität für das Gegenüber. Solomon dringt stärker in die Geschichten anderer Figuren vor, etwa in jene der jungen Frau Patsy, die Opfer von Vergewaltigungen wird.

STANDARD: In Ihren Filmen gibt es ein besonderes Gespür für Zeit. Manchmal wird die Zeit fühlbar wie in der Szene, in der man Northup an einem Strick aufhängt. Wie bereiten Sie solche Takes vor?

McQueen: Das hängt von der jeweiligen Szene ab. Manchmal geht es ums Sprinten, manchmal ums Gehen, manchmal ums Joggen. Die Bootszene, in der die Gefangenen von New York nach New Orleans gebracht werden, ist etwa als Montage von Momenten arrangiert. Sie wirkt fast stilisiert. Die Szene, in der Solomon gehängt wird, ist sehr lang und lose. Die wichtigsten Figuren in der Szene sind die Zikaden. Das Geräusch des Windes, der anzeigt, wie die Zeit vergeht. Die Szene läuft praktisch in Realzeit ab. Oder die mit Handkamera gefilmte Szene, in der Patsy ausgepeitscht wird - ohne Schnitt. Ich stecke das Publikum in einen Druckkochtopf. Würde ich schneiden, würde der Druck entweichen. Ich wollte, dass die Szene intensiv bleibt. Es gibt keine Möglichkeit zur Flucht.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um, dass Sie eine Form von Terror darstellen und sich dabei künstlerischer Mittel bedienen? Wie vermeiden Sie Überästhetisierung?

McQueen: Das bleibt immer ein Problem, aber ich befasse mich ja mit der Realität. Ich habe einen Film über Sklaverei gemacht, keinen Horrorfilm. Wenn Sie jemals nach Louisiana kommen, werden Sie sehen, dass das einer der schönsten Orte der Welt ist. Doch manchmal geschehen die schrecklichsten Dinge an den schönsten Orten. Das ist die Perversion des Lebens. Ich habe von meinem Kameramann keine Filter verwenden lassen, weil ich das Leben ungefiltert filmen will. Was ich zeige, ist passiert - damit muss das Publikum umgehen, auch wenn es schwerfällt. Vor zwei Tagen habe ich meinen Sohn in die Schule gebracht, da ist die Polizei an uns vorbeigerast. Es war ein kalter, schöner Tag. Später habe ich erfahren, dass ein siebenjähriges Mädchen überfahren wurde.

STANDARD: Haben Sie "Django Unchained" gesehen, der sich ja nicht sehr um Realismus bemüht?

McQueen: Ja, habe ich. Ich bin froh, dass Tarantino diesen Film gemacht hat. Nicht wirklich "my cup of tea", aber er erzählt von Sklaverei, und dieses Thema wurde sehr lange einfach ignoriert.

STANDARD: Ihr Film hat ein ungewöhnliches Soundsystem. Es ist weniger abstrakt als in "Hunger", aber Sie arbeiten sehr konkret mit dem Ton. Andererseits gibt es den eher klassischen Score von Hans Zimmer. Wie sah dazu das Konzept aus?

McQueen: Die Natur spielt eine große Rolle, deshalb habe ich versucht, mit dem Ton direkt ins Bild zu gelangen. Mit den schon erwähnten Zikaden, dem Wind. In „Hunger" befinden wir uns in einer Gefängniszelle in Nordirland, das ist metallen, zementartig – ein ganz anderer Sound. Der Ton kommt mehr aus dem Inneren der Figuren, aus ihren Köpfen. Wenn man jedoch in Louisiana dreht, in dieser unermesslichen amerikanischen Landschaft, die sofort romantische Bilder heraufbeschwört, ist alles anders: Die Schönheit ist auch im Ton. Was Hans Zimmers Musik betrifft, ging es mir vor allem um die Geige. Sie findet eine Melodie für Solomon und zeigt, was in seinem Kopf vor sich geht. Dann gibt es noch diese spirituellen Songs, die Arbeitslieder, bei denen sehr wichtig war, dass es orale Lieder sind. Es gibt also die Violine, die Stimme und die Geräuschkulisse.

STANDARD: Sie waren bereits als bildender Künstler ein Star, als Sie sich dem Kino zuwandten: Ist dieser Wechsel aus einer bestimmten Strategie heraus erfolgt?

McQueen: Für mich ist beides das Gleiche. Man kann sagen, die eine Arbeit ist abstrakter als die andere. Oder das eine gleicht mehr Poesie, das andere mehr dem Roman. Aber es sind dieselben Bilder.

STANDARD: Damit ändert sich aber auch das Publikum. Wichtig?

McQueen: Nicht jeder liest Gedichte ... Ja, ich finde es ganz großartig. Man hat zwei Zuschauerschaften. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 11./12.1.2014, Langfassung)