Eine Leserin schreibt:
Ich lese regelmäßig Ihre Kolumne und habe auch mehrere Ihrer Bücher gelesen. Ihre Ansichten und Einsicht in der Psyche der Kinder haben mir sehr geholfen, eine bessere Mutter zu sein.
Jetzt habe ich eine Frage an Sie: Meine Tochter ist sieben Jahre alt und ist im Moment nicht besonders mitteilsam. Ich weiß, dass der Übergang vom Kindergarten in die Schule vergangenen Herbst für sie ganz schön anstrengend war. Es werden viele neue Ansprüche und Erwartungen an sie gestellt; der Druck ist groß und es gibt viel Konkurrenz zwischen den Mädchen in der Klasse - sowohl in Bezug auf Schule und Lernen als auch in Bezug auf Sport und Popularität. Ich habe Angst davor, dass meine Tochter keine Möglichkeit hat, die Schule und das Lernen positiv zu erleben.
Ich versuche oft mit ihr darüber zu reden, sie blockt aber ab. Es ist ihr furchtbar peinlich für sie und sie hält sich sogar die Ohren zu, wenn ich über diese sensible Themen mit ihr reden möchte. Sie war früher ganz offen und fühlte sich sicher und geborgen. Jetzt ist sie auf einmal in sich gekehrt und aggressiv. Als sie noch im Kindergarten war, hat sie vor Familie und Freunden viel gesungen oder ist in Theaterstücken aufgetreten. Jetzt hat sie plötzlich Angst davor und nimmt an Aktivitäten, bei denen sie im Mittelpunkt steht, gar nicht mehr teil. Sie vermeidet jedes Lob der Großeltern und meint selbst, nicht tüchtig oder beliebt zu sein, was aber nicht stimmt. Es ist vielmehr ein Ausdruck dafür, dass sie weder gelobt werden noch im Mittelpunkt stehen will.
Sie möchte nicht einmal die Familie zu ihrem Geburtstag einladen, weil sie nicht im Mittelpunkt sein will. Was ist denn los mit ihr? Ist es vielleicht nur eine Phase, durch die wir durch müssen, oder haben wir etwas falsch gemacht? Was sollen wir machen, um ihr Vertrauen wieder zu gewinnen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken?
Jesper Juul antwortet:
Ich glaube, es ist viel zu früh, um etwas darüber zu sagen, ob das Selbstwertgefühl Ihrer Tochter beschädigt ist oder nicht. Es ist aber deutlich, dass ihr Selbstbild im Moment zusammengestürzt ist.
Die Geschichte erinnert mich ein bisschen an die Geschichten, die viele 17- bis 20-jährigen Frauen Fachleuten erzählen, wenn sie über ihre Symptome von Melancholie oder Essstörungen reden. Es ist sehr oft die Geschichte vom wohlbegabten und populären Mädchen, das beliebter Mittelpunkt der Familie war, das unter den Klassenbesten war und den Eltern nie irgendeinen Grund zur Sorge oder Probleme bereitete. Dieses Mädchen war in der Regel eine "Prinzessin" daheim und war überfordert, als sie in die Großstadt zum Studieren zog. Auf einmal war sie von vielen anderen Prinzessinnen (und Prinzen) umgeben und verlor deswegen die Orientierung und ihr altes Selbstbild. "Ich wusste nicht mehr, wer ich war", sagen sie oft. Für viele wird diese Realitätsüberprüfung und das Korrigieren des Selbstbildes ein unüberwindliches Hindernis.
Zu viel positive Aufmerksamkeit
Für ein siebenjähriges Mädchen, das in sicheren Verhältnissen aufgewachsen ist, viel positive Aufmerksamkeit bekommen hat, oft im Mittelpunkt gestanden ist und sicher auch ganz viel Lob von ihren Eltern und Großeltern bekommen hat, kann es unter Umständen ein hartes Erlebnis sein, mit der Schule anzufangen. Die sozialen Bedingungen und Spielregeln sind anders als im Kindergarten und die Lehrer haben notwendigerweise auch nicht die gleiche Fürsorge für die psychische Arbeitsumfeld der Kinder.
Ihre Tochter war es gewohnt, fast unbegrenzt das positive Wohlwollen, das Engagement, die Fürsorge und Energie der Familie und Umgebung zu bekommen und hat - so wie ich es in Ihrem Brief lesen kann - sich auf eine liebevolle und positive äußere Steuerung verlassen können. Ganz einfach ausgedrückt hat sie so viel des "Guten" bekommen, dass es für sie gar nicht notwendig war, nach Innen zu schauen um sich selbst definieren zu können. Das sollten Sie weder sich, noch Ihrer Familie vorwerfen, sondern einfach zur Kenntnis nehmen. Ihre Tochter muss nämlich jetzt mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen einen neuen Weg für sich finden. Ihre Strategie ist anscheinend, dies alleine zu schaffen (diese Strategie hat sie vielleicht irgendwo in ihrer Umgebung gesehen). Ihre Botschaft an ihre Familie ist deutlich: "Ich will nicht auftreten und mich zeigen. Ich habe meine unmittelbare Selbstsicherheit verloren und Euer Lob ist sinnlos, weil es mir genau dort nicht hilft, wo es wirklich um etwas geht, nämlich in der Schule und mit meinen Freunden."
Die Gefühle ernst nehmen
Sie schreiben: "....Sie meint selbst, nicht tüchtig oder beliebt zu sein, was aber gar nicht stimmt. Es ist vielmehr ein Ausdruck dafür, dass sie weder gelobt werden noch im Mittelpunkt stehen will."
Ja, aber für Ihre Tochter ist das die Realität! Genauso erlebt sie sich selbst in ihrer neuen Umgebung - es ist ganz egal, ob es objektiv gesehen falsch oder richtig ist. Vergleichen Sie es mit der Situation, in der eine gute Freundin zu Ihnen kommt und erzählt, dass sie sich in ihrer Ehe einsam und eine Zeitlang nicht geliebt fühlt...
Vielleicht erleben Sie Ihren Mann ganz anders. Vielleicht sind Sie sich sicher, dass er sie liebt. Wenn Sie ihrer Tochter aber das antworten, beenden Sie das Gespräch, bevor es überhaupt angefangen hat.
Wir brauchen alle Anerkennung - besonders in kritischen Lebensphasen, in denen wir unser Selbstbild und Selbstverständnis verändern müssen. Wir möchten alle, dass unsere subjektiven Erlebnisse und Gefühle von unseren Nächsten ernst genommen werden. Erst dann können wir sie integrieren oder loslassen. Damit habe ich jetzt auch beantwortet, was Sie für Ihre Tochter tun können.
Im Mittelpunkt stehen kann einsam sein
Ich denke, dass Sie die Einsamkeit in der neuen Situation mit Ihrer Tochter am meisten beängstigt und verunsichert. Hier meine ich sowohl die Einsamkeit Ihrer Tochter in der Schule als auch Ihre eigene Einsamkeit im Moment, in dem die Intimität und das Vertrauen zwischen Ihnen und Ihrer Tochter nicht wie früher gegeben ist. Es wäre gut, wenn Sie für die Einsamkeit auf beiden Seiten Platz in Ihnen finden. Die Einsamkeit war schon immer auf beiden Seiten präsent - nur war sie auf der Rückseite Eurer schönen Gemeinschaft. Wie so viele Kinder heutzutage ist Ihre Tochter viel zu sehr im Mittelpunkt gestanden - und dort kann es ziemlich einsam sein.
Ihre Tochter geht im Moment durch eine schwierige Zeit, sie hat aber in dem Sinn kein "Problem", das andere für sie lösen sollten. Wir sollten sie auch nicht zur "Klientin" machen. Vielmehr ist es wichtig, dass ihre unmittelbare Umgebung bereit ist, ihr Anerkennung, Empathie und Unterstützung zu geben, wenn sie darum bittet, ohne ihre Würde und Integrität zu verletzen. Das wäre z.B. auch das Recht zu sagen: Ich möchte selbst damit klarkommen.
Und: Bleiben Sie bitte ruhig! Das Pendel schwingt früher oder später wieder zurück zur Gemeinschaft und Intimität und dann kommt sie zurück als ein anderer Mensch mit einer neuen Verletzlichkeit.
Neue Strategien entwickeln
Wir können auch die Situation symbolisch darstellen: Sie ist in eine neue Welt gekommen, in der sich das soziale Leben auf Chinesisch abspielt. Sie spricht aber nur Deutsch! Sie schafft es, das erste Jahr mitzukommen, indem sie die Fähigkeit entwickelt, die Körpersprache der anderen zu lesen, und indem sie sich langsam Chinesisch beibringt. Sie rennt nicht zur Mama nach Hause, um Hilfe zu holen - die Mama kann ja auch nicht Chinesisch. Stattdessen reißt sie sich zusammen und gibt ihr Allerbestes, um zu lernen, wie sie sich in der neuen Realität entwickeln und funktionieren kann. Ihr Einsatz verdient sehr viel Respekt und sehr viel Anerkennung, die sie aber im Moment nicht entgegennehmen kann oder will. Sie können sich aber sicher sein, dass sie das, was sie jetzt von Ihnen hört, in sich aufnimmt und speichert.
In der Zwischenzeit können Sie sich darauf vorbereiten, Mutter für eine veränderte und reifere Tochter zu sein und vielleicht zu der Erkenntnis kommen, dass das Leben auch eine Kehrseite hat, die ganz andere Kompetenzen braucht als die, die Ihre Tochter zur Verfügung hatte. Verschwenden Sie aber die Zeit bitte nicht mit Vorwürfen, was Sie alles anderes hätten machen können. Erstens, weil Sie es nicht anders konnten und zweitens, weil sich Ihre Tochter dabei nur falsch fühlen würde. Seien Sie da für sie, freuen Sie sich über ihre Existenz, weinen Sie mit ihr und heißen Sie die Einsamkeit als eine neue weitere Qualität Ihrer Beziehung willkommen. (Jesper Juul, derStandard.at, 12.1.2014)