Touristen vor dem verfallenden Kant-Haus in Wessjolowka.

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Kaliningrad - Einst hat Immanuel Kant in diesem Anwesen gelebt, nun hausen hier Obdachlose. Im Gebiet Kaliningrad verschwindet eines der letzten Zeitzeugnisse aus der Zeit des großen deutschen Philosophen.

Die Fensterhöhlen blicken schwarz und leer, die Ziegel bröckeln, das Dach ist eingefallen. Schutt und Schmutz liegen im einstigen Pfarrhaus von Wessjolowka. Der 250-Seelen-Ort, 100 Kilometer östlich der Gebietshauptstadt Kaliningrad, ist ein kleiner Touristenmagnet. Speziell Deutsche zieht es hierher – eben wegen jenes verfallenen Hauses.

"Sie kommen einzeln oder mit Bussen. Sie gehen herum, betasten die Wände, seufzen und fahren wieder ab. Früher bewohnte eine alte Frau mit ihrem Sohn eine Haushälfte. Aber im letzten Sommer verödete das Haus und verwandelte sich in eine Bleibe für Obdachlose", sagte Sergej Samochin, einer der Nachbarn, gegenüber dem Portal Smartnews.

Denkmalschutz trotz Brandes

Als Kaliningrad noch Königsberg hieß, wurde das Dörfchen Wessjolowka Judtschen genannt. Die Mitte des 16. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnte Ortschaft bekam im 18. Jahrhundert eine Kirche und einen Pfarrer – und kam so zu seinem wohl prominentesten Einwohner: Von 1747 bis 1750 lebte nämlich der junge Philosoph Immanuel Kant als Hauslehrer beim Pfarrer Daniel Ernst Andersch und unterrichtete dessen Kinder sowie nach Angaben des Heimatkundlers Andrej Winogradow auch die Dorfkinder von Judtschen.

Immanuel Kant ist auch heute noch – zwei Jahrhunderte nach seinem Tod – einer der bekanntesten Philosophen weltweit. Doch die Spuren des Menschen Kant verlieren sich zunehmend: Sein Geburtshaus in der Vorderen Vorstadt Königsbergs musste schon 1740 einem Neubau weichen, sein Wohn- und Sterbehaus am Kneiphof wurde 1945 vernichtet, ebenso wie das Gutshaus in Groß-Arnsdorf, in dem Kant nach seiner Zeit in Judtschen als Hauslehrer tätig war.

Auch Kants Bleibe in Judtschen musste im 19. Jahrhundert nach einem Brand neu aufgebaut werden, bekam aber trotzdem vor zwei Jahren Denkmalstatus zugesprochen, da sie nach wie vor geschichtsinteressierte Touristen anzieht.

Erkenntnistheoretischer Aprilscherz

2005 anlässlich der 750-Jahr-Feier Königsbergs/Kaliningrads legten Russlands Präsident Wladimir Putin und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam Blumen am Kant-Grab hinter dem Dom nieder und versprachen, das Erbe des großen Philosophen zu erhalten. Bis heute gibt es in Russland Diskussionen, Kaliningrad nach seinem wohl berühmtesten Einwohner umzubenennen.

Im Kreml hält man sich dazu bedeckt, doch noch im Frühjahr forderte Putin, Kant zum Wahrzeichen der Kaliningrader Oblast zu machen: "Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, dann sollte Kant nicht nur Symbol eurer Universität, sondern der gesamten Region werden", sagte Putin bei einem Treffen mit Kaliningrader Studenten am 1. April 2013.

Die Kaliningrader Behörden haben die Ansage Putins aufgrund des Datums wohl als Aprilscherz verstanden. Denn zum Erhalt eines der letzten Denkmäler, das noch realen Bezug zum Leben des Begründers der Erkenntnistheorie hat, haben sie nichts beigetragen.

Besitzer unbekannt

Die offizielle Begründung lautet, das Haus sei in Privatbesitz. Doch die Ämter haben sich bis jetzt nicht einmal bemüht herauszufinden, wer denn der Besitzer der Ruine ist. Eine Überprüfung werde noch in diesem Jahr gestartet, verspricht Jewgeni Maslow vom Amt für den Erhalt von Kulturgütern in Kaliningrad.

Ob die bürokratische Maschinerie angesichts ihrer bisherigen Trägheit allerdings rechtzeitig auf Touren kommt, bevor das Haus einfällt und die letzten Steine geraubt wurden, daran zweifeln sogar Regionalpolitiker: "Ein echtes Denkmal, das uns Unmengen Touristen bringt, wird durch die Tatenlosigkeit der Verwaltung zerstört. Das ist schmerzlich für die Region", so Solomon Ginsburg, Abgeordneter der Kaliningrader Regional-Duma. (André Ballin, derStandard.at, 9.1.2014)