Es gibt sie, die Bilder, die alles sagen. Fassungslose Wut ist dem Gesicht Mbuyisa Makhubos eingeschrieben, der am 16. Juni 1976 den sterbenden Hector Pieterson trägt. Neben ihm: die Schwester des erst zwölfjährigen Schülers, der soeben im Kugelhagel der südafrikanischen Polizei zusammengebrochen ist. Auch ihr Gesichtsausdruck besitzt beinahe allegorienhafte Symbolkraft, scheint in ihrem Schrei doch die Ohnmacht der durch die südafrikanische Apartheid unterdrückten Menschen greifbar. Das Foto von jenem Tag, der den Beginn des Aufstands von Soweto markiert, in dem hunderte Kinder und Jugendliche starben, die gegen die Einführung von Afrikaans als Unterrichtssprache protestierten, ging damals um die Welt.
Heute ist dieses Bild Kernstück eines Museums, das die südafrikanische Regierung 2002 unweit der Stelle, an der Hector Pieterson starb, zusammen mit einer Gedenkstätte eröffnete. Es ist das erste Museum, das in Soweto erbaut wurde, der Stadt südwestlich von Johannesburg; seine Eröffnung bedeutete den Auftakt zur Einrichtung einer Reihe von Gedenkstätten des Anti-Apartheid-Kampfs, etwa dem "Freedom Charter" -Denkmal am Walter Sisulu Square im nahen Kliptown oder der Lilliesleaf Farm in Rivonia nördlich von Johannesburg. Neben der politischen verfolgt die südafrikanische Regierung damit auch eine ökonomische Absicht: Ziehen die Erinnerungsorte doch Touristenströme in die lange vernachlässigte Township. Und die Einwohner von Soweto erweisen sich dabei als geschäftstüchtig: Mittlerweile lassen sich die Schauplätze auch in eventtouristischer Manier auf vierrädrigen Squads erkunden. Ganz nebenbei, sprich im Vorbeifahren, erzählen die Murals, Wandmalereien und Graffitis, wie eine endlose Graphic Novel von der Geschichte Sowetos.
Sprung in die Geschichte
Nur wenige Gehminuten vom Hector-Pieterson-Museum entfernt ragen die Wahrzeichen Sowetos hoch in den Himmel: die beiden bunt bemalten Orlando Towers. Es sind die Kühltürme eines stillgelegten Kohlekraftwerks, deren 100 Höhenmeter sich seit 2009 auch im freien Fall per Bungee-Jump bewältigen lassen. Gleich dahinter liegt die berühmte Vilakazi Street. Sie wird stolz als einzige Straße der Welt bezeichnet, in der die ehemaligen Domizile zweier Nobelpreisträger stehen: Während die Residenz von Desmond Tutu nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist, sammeln sich vor und im Haus Nummer 8115 noch immer dichte Menschentrauben, um des einstigen Bewohners zu gedenken: Sie trauern um Madiba, wie Nelson Mandela in Südafrika liebe- und respektvoll genannt wird. Von 1946 bis 1962 lebte Mandela in diesem Backsteinhäuschen, 1990 kehrte er nach 27-jähriger Haft für elf Tage zurück, ehe ihn der Rummel um seine Person von Neuem zum Auszug veranlasste - diesmal allerdings freiwillig.
In seiner Autobiografie sollte Mandela später notieren: "It was only then that I knew in my heart I had left prison. For me No. 8115 was the centre point of my world." 1997 wurde das Haus der Allgemeinheit geöffnet, im kleinräumigen Inneren lassen sich seither allerlei Memorabilien und das originale Mobiliar begutachten - inklusive Mandelas Bett, auf dem immer noch das Schakalfell liegt, als Zeichen königlicher Abstammung. Gegenüber schmückt sich ein Lokal stolz mit der Bezeichnung "Mandela Family Restaurant".
Goldgräber-Siedlung
In Südafrika versucht man seit einigen Jahren nach Kräften, die Touristenströme zum Fließen zu bringen. In Johannesburg sind dafür besondere Herausforderungen zu bewältigen: Zum einen sind Stadt und Umland arm an landschaftlichen Sehenswürdigkeiten. Wuchs Johannesburg doch einst entgegen allen stadtplanerischen Grundsätzen mitten im wasserarmen Grasland des Highvelds in rund 1750 Meter Meereshöhe aus dem Boden. Der Grund: Edelmetall. 1886 als kleine Goldgräber-Siedlung gegründet, wies diese zehn Jahre später bereits mehr als 100.000 Einwohner auf.
Heute sind es rund acht Millionen Menschen, die in der größten Metropolregion des südlichen Afrika leben. Von der Geschichte als ertragreichste Goldbergbauregion der Welt zeugt noch immer die schon in den Vororten beginnende Mondlandschaft von riesigen Bergen an Aushubmaterial. Die andere Touristenbarriere Johannesburgs ist das teilweise überholte Image als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Während in den 1990er-Jahren die Anzahl der Mordopfer tatsächlich jene der Verkehrstoten überstieg, habe sich in den letzten Jahren die Sicherheitslage gebessert. Der persönliche Eindruck bestätigte dies, auch wenn mancher Hotelangestellte es sich nicht nehmen ließ, den frisch aus Europa angekommenen Reisenden zum Bankomaten zu begleiten, obwohl dieser nur drei Straßen entfernt ist: "You never know, maybe it's not your day", heißt es trocken.
Derselbe Reisende, Autor dieser Zeilen, erkundete in den Tagen darauf Johannesburgs Innenstadt unbehelligt, allein und per pedes. Dass dies möglich ist, dafür sind gezielte Maßnahmen der städtischen Verwaltung mit verantwortlich: Neben Überwachung ist man um Wiederansiedlung von Hotels und Firmen im Stadtzentrum bemüht, aus dem zahlreiche Bewohner zuvor in die nördlichen Vororte abgewandert waren. Nun entstehen auch überall sympathische Cafés und Restaurants, die von der wachsenden Mittelschicht frequentiert werden.
"Upgrading" heißt das Zauberwort in Bezug auf den Central Business District von Jo'Burg. Dabei setzt man auch auf "weiche" Standortfaktoren: Im westlich an das Stadtzentrum angrenzenden Bezirk Newtown ist rund um den Mary Fitzgerald Square ein Kulturbezirk entstanden, der das Museum of Africa ebenso umfasst wie das geschichtsträchtige Market Theatre, in dem man sich zu Apartheid-Zeiten bewusst über rassistische Schranken hinwegsetzte. Seit 1998 geht dort mit dem Festival Joy of Jazz Südafrikas zweitgrößtes Jazz-Event - nach jenem in Kapstadt - über die Bühne und zieht ein Augustwochenende lang immer mehr Publikum an. Darunter zunehmend Besucher aus anglofonen afrikanischen Ländern wie Kenia, Ghana, Simbabwe und aus Europa, sagt der Gründer und Organisator Peter Tladi, der seit einigen Jahren mit der nationalen Fremdenverkehrsagentur South African Tourism kooperiert.
Ruf des Rauen überspielt
"Als wir anfingen, hatte das Zentrum den Ruf, eine raue Gegend zu sein, und die Menschen hatten Angst zu kommen", erzählt Tladi. "Ich denke, das Jazzfestival hatte seinen Anteil daran, dass die Leute zurück ins Stadtzentrum gekommen sind. Bei den ersten Festivals spielten die Musiker für rund 1000 Besucher. 2013 waren es 25.000. Joy of Jazz ist Teil des Erneuerungsprogramms des Stadtzentrums von Johannesburg. Deshalb lässt sich auch der Bürgermeister hier blicken", sagt der 63-Jährige schmunzelnd.
Umgerechnet rund eineinhalb Millionen Euro hat Tladi als Budget zur Verfügung, davon kommt knapp die Hälfte vom privaten Hauptsponsor Standard Bank. 2013 konnte man rund sechzig Bands und Musiker aus den Bereichen Mainstream-Jazz, Blues und Soul auf neun parallel bespielten Bühnen erleben. Headliner waren - im Rahmen eines New-Orleans-Schwerpunkts - die Trompeter Terence Blanchard und Christian Scott, zudem Klarinettist Eddie Daniels oder Sängerin Carmen Lundy. Neben amerikanischen MusikerInnen waren vor allem solche aus Südafrikas reicher Szene zu erleben, angeführt von Pianistenlegende Abdullah Ibrahim, der zwei Tage nach dem Tod seiner Frau Sathima Bea Benjamin mit dem Ekaya-Ensemble wortlos eine berührende musikalische Séance zelebrierte.
Die Festival-Besucher - auch der aus Österreich - mischten sich gerne in das bunte Treiben, das dem Viertel tatsächlich viel Leben und Belebtheit zurückbringt. Bloß wer dafür im August die Abende in Johannesburg lang werden lässt, versteht, warum ausgerechnet zu dieser Zeit viele Südafrikaner mit Wollmütze und Schal durch die Straßen eilen. Denn dann kann es hier, im Südhalbkugel-Winter, schon einmal empfindlich kalt werden. (Andreas Felber, DER STANDARD, Rondo, 10.1.2014)