Unter mir wohnt ein Student. Mitte 20, Vollbart, Tag-Nacht-Umkehr. Wenn mein Sohn gegen 17 Uhr aus der Schule heimkommt, sehe ich ihn manchmal, den Nachbarn. Auf seinem Weg, das Frühstück einzukaufen, oder was weiß ich. Abends kommt dann Aktivität in die Bude. Er hört gern Musik, der Nachbar. Eine Eigenschaft, die ich teile, bloß zu anderen Tages- bzw. Nachtzeiten.
Dabei fing alles so gut an: Als er einzog, der Nachbar, hat er sich gleich vorgestellt. Also ich bin der soundso, wenn es einmal zu laut wird – ich geb dir meine Handynummer, und du rufst mich einfach an. Null Problemo. Sehr sympathisch, der junge Mann. Wir waren gleich per Du, so von Student zu Studentin. Eigentlich hört man nur die Bässe, beziehungsweise spürt sie. Wenn mein Kind so gegen 21 Uhr ins Bett geht, weil es am nächsten Tag Schule hat, schreibe ich manchmal ein SMS. Leiser bitte! Eh schon wissen, morgen Schulbetrieb und so. Das funktioniert super.
Einmal habe ich ihn auch eingeladen, den Nachbarn, sich unsere Wohnung anzusehen. Unsere Schlafzimmer liegen blöderweise über seinem Wohnzimmer, und nein, das kann man nicht umdrehen. Wir haben dann ausprobiert, wie laut er aufdrehen kann, ohne dass das Bett wackelt. Nicht sehr laut, es ist ein altes Haus mit dicken Wänden, aber dünnen Zwischendecken. Bei der ersten wirklich großen Party war ein bisschen blöd, dass er die SMS nicht gesehen hat beziehungsweise den Anruf nicht gehört. Musste ich runtergehen und anklopfen. Erst. Dann mit den Fäusten gegen die Tür dreschen.
Am nächsten Tag hat er eine Flasche Wein gebracht und sich entschuldigt, total nett, echt jetzt. Der Wein war nicht zum Saufen, Studentenbudget eben, aber es geht ja um die Geste, und zum Verkochen war er gut. Manchmal sprechen wir über Schallschutzverbauungen. Ich kann ihm echt nicht böse sein, verdammt noch einmal! Bin ich aber! Weil er mir zeigt, dass jetzt ich die bin, die ich einst so verabscheut habe. Ich bin die, die um fünf Uhr nachts vor der Tür steht und sich beschwert. Weil sie am nächsten Tag um halb sieben Uhr aufstehen muss und dem Kind ein Frühstück machen und dann arbeiten. "Das ist in zwei Stunden, versteht ihr?!" Verstehen sie nicht.
Habe ich auch nicht verstanden als Studentin, damals vor 20 Jahren. Aber ich bin ja wieder Studentin! Nein, bin ich nicht. Mein Nachbar hat mir die Wahrheit gezeigt: Ich bin eine erwachsene Frau und Mutter, die neben ihrem Job als Journalistin auch noch studiert. Und gerade für eine große Prüfung lernt. Und deswegen ausgeschlafen sein muss, hörst du da unten? Ich habe schon mit der Polizei gedroht und hasse mich dafür. Mein guter Vorsatz für 2014: Ich werde sie wirklich rufen. Bald, bald bin ich so weit. (Tanja Paar, derStandard.at, 8.1.2014)