Ich bin der Geheimdienstchef: @DIBHakanFidan twittert in eigener Regie für den Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan. Ähnlich übernehmen viele türkische Twitterschreiber die Rolle von Tayyip Erdogan, um in seinem Namen Botschaften unters Volk zu bringen. Der Fake-Fidan bezieht sich auf Enthüllungen über den Istanbuler Oberstaatsanwalt Zekeriya Öz. Der soll sich für 77.500 Lira einen Urlaub in Dubai mit Kollegen von einer Baufirma gezahlt haben lassen. Öz leitete zugleich die Ermittlungen beim Korruptionsverdacht regierungsnaher Kreise. Der Tweet: "(Die Gülen-Tageszeitung) Zaman, das die Regierung mit (Nachrichten über) Korruption aufreibt und sogar Behauptungen übertrieb, hat die 77.000 von Öz nicht gemeldet." Der Hashtag (in diesem Fall ohne Raute) heißt: ZekeriyaNIMMunsmitindenUrlaub.

Foto: twitter.com/screenshot

In anderen Ländern tippseln die Menschen etwas über bedeutende Neuerungen im Fernsehprogramm, Sportunfälle oder #hardresetreset (ein endzeitliches Computerspiel). In der Türkei ist es Politik, Politik oder: Politik. Manchmal auch Politik mit Fußball, aber nur, wenn der Tag danach ist. Vielleicht war die türkische Twittermania vor drei Jahren noch harmlos und verspielt, vor Wahlsieg und Hybris der Regierungspartei (Juni 2011), vor Polizei-gegen-Geheimdienst (Februar 2012), Gezi (Mai-Juni 2013) und nun den Korruptionsermittlungen gegen regierungsnahe Kreise (seit 17. Dezember 2013). Jetzt wird Tag und Nacht gekämpft, allein, im Verband, unter Pseudonym oder live aus dem Ministerbüro. "Tschitt, tschitt, tschitt", sagte Bülent Arinç (@bulent_arinc) dieser Tage entnervt, der Regierungssprecher und Vizepremier, der aus Pflichtgefühl wohl seine Rücktrittsideen hintanstellte, als Tayyip Erdogan Ende Dezember dem Korruptionsstrudel mit einer großen Kabinettsumbildung entkommen wollte. "Tschitt" macht die Twittermeldung, wenn sie in die Arena hinausgeschossen wird (je nach Einstellung auf dem Smartphone). "Es ist eine solche Krankheit geworden, von der sie alle ergriffen sind", klagte der Regierungssprecher. "Wenn wir zu viel reden, machen wir zu viele Fehler." Das ist nicht falsch.

Es geht nicht mehr wirklich um das "soziale Übel", das Tayyip Erdogan im Protestsommer 2013 anprangerte, erbost über die Schnelligkeit, mit der die Gezi-Bewegung landesweit in der Türkei Menschen gegen die autoritär auftretende Regierung mobilisierte. Über dieses Stadium sind wir schon hinaus. Nicht nur die Opposition oder die bewegten Bürger kommentieren unentwegt den Fortgang der Politik im Land - Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen Opposition, gelang im Juni 2013, während der massiven Tränengaseinsätze auf dem Taksim-Platz in Istanbul, eine der am meisten wiederholten Twitterbotschaften des Jahres; besonders angemessen war sie nicht, aber anschaulich für das Niveau, das die Auseinandersetzung auf Twitter mitunter erreicht: "Eine Stadt in eine Gaskammer umzuwandeln, ist selbst Hitler nicht eingefallen." ("Bir şehri gaz odasına çevirmek Hitler'in bile aklına gelmemişti").

Auch amtierende Minister geben Erklärungen ab, und weil 140 Zeichen ein knapp bemessener Raum sind, erledigen sie das eben mit vier oder fünf Tweets in Folge. Erdogans engste Berater teilen sich ebenfalls jeden Tag mit - @Y_Akdogan, @ertanaydin oder @ikalin1. Kaum vorstellbar, dass sie vor jedem "tschitt" um Erlaubnis beim Premier nachfragen. Nach der Verurteilung des früheren Armeechefs Ilker Başbug zu einer lebenslangen Haftstrafe im August 2013 twitterte Ertan Aydin etwa: "Die Existenz einer Organisation, die Ergenekon heißt, und die Tatsache, dass sie einen Putsch plante, um die legitime Regierung zu stürzen, ist dokumentiert worden." Das hat Aydins Chef unmittelbar nach dem Richterspruch so deutlich nicht gesagt.

Fünf Monate später sieht alles ohnehin schon wieder ganz anders aus. Ergenekon war möglicherweise nur eine Erfindung jener Gülen-treuen Staatsanwälte und Richter, die nun auch Erdogan an den Kragen wollen - so stellt es die Regierung dar und stimmt das Publikum auf die große Wiedergutmachung mit der Armee ein, die man nun besser auf der Seite hat. Man weiß ja nie.

Hüseyin Aygün, Abgeordneter der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP aus Tunceli, jetzt wieder Dersim, der kurdisch-alevitischen Provinz in Zentralanatolien, provozierte diese Woche mit einer einzigen Twittermeldung eine neun Punkte lange Entgegnung der türkischen Armee (auf deren Webseite). Sehr ökonomisch und - wie man gleich sieht - sehr nachrichtenfördernd: Twittern an sich macht schon Politik in der Türkei. Der geheime Imam der Armee könnte doch Armeechef Necdet Özel selbst sein, spekulierte Aygün in seinem Tweet, nachdem in der regierungsfreundlichen Presse über die angebliche Unterwanderung des türkischen Militärs durch das Netzwerk des Predigers Gülen und parallele Strukturen mit einem Imam an der Spitze geschrieben wurde. Den soll ja auch die türkische Polizei haben...

6000 hauptamtliche Twitterer würden bei der Regierungspartei AKP angestellt, meldete die Tageszeitung Taraf vergangenen November. Das ist - sofern sie stimmt - nur eine relative Zahl für die Größe von Erdogans "Twitter-Armee". Vollzeit-Twitterer, die von den Wohltaten ihrer Chefs berichten und von Fehlleistungen der politischen Gegner oder von unbeugsamen Bürgern, werden seit Längerem schon in Rathäusern und Gouverneursämtern beschäftigt. Melih Gökçek, der Bürgermeister von Ankara, der bei den Wahlen im März für eine fünfte Amtszeit kandidiert, errang mit seiner Rufmordkampagne gegen die BBC-Korrespondentin Selin Girit auch über den türkischen Twittertellerrand hinaus international Bekanntheit; #seikeinAgentfürEnglandSelinGirit hieß der Hashtag, mit dem Gökçek die Ankara-Korrespondentin während der Gezi-Proteste öffentlich anprangerte.

Private Twittermeister für oder gegen die Regierung, für Erdogan, Kilicdaroglu oder Kemal Atatürk gibt es in wachsender Zahl. Beiträge unter dem Begriff #RecepTayyipErdoganDieLiebederTürkei wetteiferten dieser Tage mit #ErdoganFeinddestürkischenVolksChefderKorruption. (#TürkiyeSevdalısıRecepTayyipErdoğan, #TürkHalkınınDüşmanı YolsuzluklarınBaşıErdoğan). Geschwindigkeit und Volumen der politischen Auseinandersetzung im türkischen Twitter-Pool sind enorm geworden. Von den zehn weltweit führenden Hashtags am Dienstagabend (MEZ), 7. Jänner, kamen allein sieben aus der Türkei.

Es spiegelt nicht nur die große Polarisierung einer Gesellschaft wider, die gern "tschitt" auf dem Smartphone macht. Mit Twitter haben sich die Türken wohl auch eine Plattform für ihre Demokratie geschaffen, die auf den Straßen und in den alten Medien wieder enger geworden ist. Neben Parteiführergehorsam und Lagerdenken blitzen immer wieder Ironie und Spott der Bürger auf. Zekeriya Öz ist nun ihr Opfer geworden, der Istanbuler Oberstaatsanwalt, der gegen die angeblichen Ergenekon-Putschisten wie gegen die Süperlig-Manipulierer ermittelte und auch bei den Razzien gegen die Ministersöhne und Baumagnaten am 17. Dezember die Aufsicht hatte. Öz ließ sich angeblich von einer Baufirma einen Männerurlaub in Dubai für 77.500 Lira bezahlen, unglücklicherweise auch noch von einer, die einem der jüngst festgenommenen Herren gehört. Der Staatsanwalt dementiert, aber der tag stand schnell: ZekeriyaBiziTatileGÖTÜR - ZekeriyaNIMMunsMitInDenUrlaub. (Markus Bey, derStandard.at, 8.1.2014)