Schabbach, Mitte des 19. Jahrhunderts: Jakob (Jan Dieter Schneider, im Bild mit Marita Breuer als Mutter) sehnt sich weit fort, doch immer wieder kommt ihm das Leben dazwischen.

Foto: Filmladen

Wien - Es war im Jahr 1984, als das Dorf Schabbach plötzlich auf der Landkarte erschien. Ein fiktiver Ort im Hunsrück in Rheinland-Pfalz, Wohnsitz der Familie Simon und Schauplatz von Edgar Reitz' Heimat, einem der ambitioniertesten Fernsehprojekte, das die öffentlich-rechtlichen bundesdeutschen Sendeanstalten WDR und SFB lange vor dem Auftauchen der "Qualitätsfernsehserien" US-amerikanischer Prägung wagten.

Heimat - Eine deutsche Chronik verknüpfte in elf Folgen von insgesamt 924 Minuten Dauer die Geschicke der Familie Simon ab Kriegsende 1918 mit den wesentlichen Erfahrungen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, mit der politischen Geschichte Deutschlands. Im Zentrum stand Maria, die den Kriegsheimkehrer Paul Simon heiratet, der wiederum wenige Jahre später plötzlich verschwindet - nach Amerika. Marias Geschichte wird allerdings bis 1982 weitererzählt, unter anderem bekommt sie nach Pauls beiden Söhnen 1940 noch den Nachzügler Hermann.

1992/93 setzte Reitz mit Die zweite Heimat - Chronik einer Jugend nach und begleitete diesen Hermann durch Aufbruchsjahre in der BRD. Weitere zehn Jahre später wurde diese Lebens- und Gruppengeschichte dann in einem Häuschen hoch über dem Rhein bis 2004 forterzählt (Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende).

Fürs dreißigste Jubiläum aber haben sich der inzwischen 81-jährige Reitz (einst Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests) und sein Koautor Gert Heidenreich etwas Neues ausgedacht: Die andere Heimat macht den Sprung zurück ins Schabbach Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Vorfahre und Seelenverwandter von "Hermännsche" fungiert Jakob Adam Simon, der Träumer, der Bücherwurm, der Dialekte von Amazonas-Ureinwohnern beherrscht (oder erfindet) und im Dorf schon selbst "der Indianer" heißt.

Jakob (Jan Dieter Schneider) muss seine Sehnsucht hart verteidigen, gleich zu Beginn wirft ihm der Vater, ein Schmied, das Buch in den Hof, und der Bursch selber stürzt hinterdrein. Aber Jakob bleibt stur, das Dorf und der Horizont seiner Bewohner sind ihm zu eng, Woche für Woche sieht er die schwer beladenen Pferdefuhrwerke der Auswanderer durch die Dörfer fahren. Jakob beginnt, Reisepläne zu schmieden, eine erste Fahrt führt ihn mit aufmüpfigen Studenten auf deren Floß die Mosel hinab. Aber immer wieder geraten Jakob das Leben und der Tod zwischen sein Vorhaben.

Der knapp vierstündige Film, diesmal von ARD und Arte koproduziert und zunächst im Kino ausgewertet, begleitet Jakob durch wenige, entscheidende Jahre. Er verzeichnet - so der Untertitel - die Chronik einer Sehnsucht, und Reitz hat das Chronikale auch als Erzählprinzip beibehalten: Der Film gliedert sich in Episoden, denkwürdige Ereignisse, wie zum Beispiel der Aufstand der Schabbacher Kirmesgänger gegen das Ausschankprivileg des Barons. Während vorne auf dem Platz bei der Festscheune handfest protestiert und die "liberté" beschworen wird, gibt sich hinten in einer engen Gasse eine vom Tanzen noch ganz schwindelige junge Frau dem Bruder ihres eigentlichen Verehrers hin.

Auch dieser multiperspektivische Blick auf ein Geschehen ist charakteristisch für Reitz. Die Kamera (Gernot Roll) bewegt sich einerseits wendig durch den Raum, andererseits bevorzugt sie den Überblick, erfasst eine Szene tendenziell in weiten, offen gehaltenen Cinemascope-Einstellungen. Ab und an setzt der Regisseur farbige Akzente im ansonsten gestochen schwarz-weißen Bild. Neben der modernen Originalmusik von Michael Riessler (Heimat 3) wirkt auch dieser Kunstgriff eher vordergründig. Das ändert aber nichts an der Wirkung, die diese Chronik entfaltet: als materialistisch geprägte Geschichtserzählung, als Plädoyer für Bildung im Humboldt'schen Sinne (Werner Herzog hat einen Gastauftritt) und als möglicherweise wirklich letztes Schlaglicht aufs Leben der Leute von Schabbach. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 4.1.2014)