Was die Offenheit unseres Bildungssystems betrifft, so gleicht dieses weit eher einem indisch-asiatischen Kastenstaat als zeitgemäßen europäischen Schulen.

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Bernd Schilcher ist Universitätsprofessor in Graz.

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Differenziertes Wissen, unterschiedliche Fähigkeiten, Denkweisen und Problemzugänge stärken die Resilienz, einheitliche, homogene Vorgangsweisen schwächen sie.

Resilienz heißt Widerstandskraft. Sie ist bei manchen Menschen sehr stark ausgeprägt, bei anderen weniger oder gar nicht. In den letzten Jahren sind es vor allem "extreme Ereignisse", sogenannte "X- Events" gewesen, wie schwere Unfälle, Krisen und Katastrophen, die eine solche Resilienz herausgefordert haben. Weltweit. Wie verkraftet man den Verlust seiner Familie und seines gesamten Hab und Guts durch einen Taifun, ein Erdbeben, eine Überschwemmung? Was macht man, wenn für viele Tausende Menschen das gesamte Ersparte dahin ist, weil sie von einer Bank betrogen wurden?

Der New Yorker Resilienz-Forscher Andrew Zolli schätzt, dass die Zahl solcher X-Events noch dramatisch ansteigen wird. Wie reagieren einzelne Personen auf solche "events", wie größere Gruppen oder ganze Staaten, fragt Zolli. Wer verhält sich hier richtig, wer liegt falsch? Gibt es Prinzipien, an die man sich halten kann - oder ist man jeweils auf Gedeih und Verderb dem Zufall ausgeliefert?

Resiliente Galtürer

Im Februar 1999 donnerte eine Lawine mit 300 km/h auf den 800-Seelen-Ort Galtür im Tiroler Panznauntal und tötete 31 Menschen. Der Wiener Psychotherapeut Bernd Rieken untersuchte den Umgang der Dorfbewohner mit der Katastrophe und kam zum Schluss, dass sich die Bevölkerung überaus resilient verhalten hatte. Es wurde sofort mit Rettungsmaßnahmen begonnen. Ein Großteil der Dorfgemeinschaft ist bei Bergrettung, Feuerwehr oder Rotem Kreuz; jeder wusste, was er zu tun hatte, viele kannten sich mit Sonden aus, Bergungsgeräten und erster Hilfe. Der Bürgermeister, der hohes Ansehen bei den Galtürern genoss, koordinierte die Rettungsmaßnahmen. Alles ist recht gut gelaufen.

Sehr häufig geht es aber auch daneben. So kennt man Länder, die immer wieder von schweren Stürmen oder Erdbeben heimgesucht werden, die aber nicht einen einzigen festen Bau errichten. Meist gibt es keine Notfallspläne, kaum jemand hat eine Notfallsausbildung, es fehlt jede Art von Gerätschaft, die Menschen suchen mit bloßen Händen nach ihren verschütteten Angehörigen.

Vielfalt ist entscheidend

Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder spätes Besserwissen, sondern um Grundsätze, die für die Zukunft hilfreich sind. In der Theorie gilt ein System als resilient, wenn es über ein möglichst großes Repertoire an differenziertem Wissen, unterschiedlichen Fähigkeiten und erprobten Verhaltensweisen verfügt. Entscheidend ist Vielfalt anstelle von Homogenität. Ein abschreckendes Beispiel für homogenes Handeln ist für Zolli die globale Finanzkrise. Alle Banken hatten toxische Papiere und wollten sie loswerden. Alle machten dasselbe, sie marschierten "im Gleichschritt" - direkt dem Kollaps entgegen.

Die Idee der Resilienz wurde ursprünglich im Zusammenhang mit dem Phänomen der Armut geboren. Es war die berühmte deutsche Forscherin Emmy Werner, die vor mehr als 30 Jahren aufwändige Untersuchungen auf der Hawaii-Insel Kauai durchgeführt hat. Sie überprüfte den gesamten Jahrgang 1955 und fand für ihr Buch Vulnerable but invincible (1982) heraus, dass viele dieser Kinder trotz ihrer häufigen Herkunft aus sehr armen Familien, oft mit Drogen- und Alkoholproblemen sowie schweren Erkrankungen, durchaus resiliente Mitglieder der Gesellschaft wurden. Jedenfalls dann, wenn sie Zuversicht, Kompetenz und den Willen zur Sorge um andere erworben hatten. Das gelang nur, wenn diese Kinder starke, vertrauensvolle Beziehungen in ihren Familien, bei ihren Verwandten und Freunden und in Schulen, Jugendgruppen, Kirchen und Fußballvereinen entwickeln konnten. So fühlten sie sich angenommen, dazugehörig und sicher.

Offene Gesellschaft

Fasst man all diese Erkenntnisse zusammen, so kommt man zu einer Reihe allgemeiner Prinzipien: Da ist in erster Linie die Bedeutung der Vielfalt und Heterogenität. Differenziertes Wissen, unterschiedliche Fähigkeiten, Denkweisen und Problemzugänge stärken die Resilienz, einheitliche, homogene Vorgangsweisen schwächen sie. Widerstandsfähige Systeme sind auch immer offen, für jedermann zugänglich. Bei Emmy Werner wird diese Offenheit gleichfalls vorausgesetzt: Die Gesellschaft von Kauai kennt keine "Kasten" wie in Indien bzw. "Stände" oder "Klassen" wie bei uns in Österreich oder in Deutschland.

Schon seit einigen Jahren beschäftigt sich die OECD mit der Resilienz von Schulsystemen. Sie stellte fest, dass es Schanghai gelingt, 75 Prozent seiner besten Leserinnen aus dem untersten sozialen Quartil zu rekrutieren, während wir in Österreich gerade einmal auf 20 Prozent kommen. Aber auch die anderen Pisa-Sieger von 2009 wie Singapur, Finnland oder Korea haben ungleich resilientere Unterschichten als wir. Warum eigentlich?

Kein resilientes Schulsystem

Eine Schweizer Untersuchung stellte schon vor sechs Jahren fest, dass Singapur und Finnland genau doppelt so viele Angehörige der untersten sozialen Schichten zu einem tertiären Abschluss bringen wie Deutschland und Österreich. Nicht gerade ein Ruhmesblatt ist es, dass wir fünfmal so viele Risikoschülerinnen quer über alle drei Pisa-Testfächer (Lesen, Mathe und Science) haben wie die erwähnten zwei Länder - dafür aber gerade einmal ein Drittel ihrer Spitzenschüler. Das heißt, wir sind oben brustschwach und unten miserabel. Warum?

Die äußerst geringe Resilienz unserer Unterschichten beschert uns auf der einen Seite eine rasch wachsende Arbeitslosigkeit, während die ausgedünnte Anzahl unserer Spitzenschülerinnen für einen deutlichen Mangel an qualifiziertem Nachwuchs sorgt. Noch im September 2013 hatten wir 335.000 Arbeitslose; im November waren es bereits 382.000, und im Jänner 2014 sind es nun sogar 430.000. 50 Prozent der Arbeitslosen haben jetzt schon keinen oder nur Pflichtschulabschluss. Zur selben Zeit fehlen uns 60.000 qualifizierte Fachkräfte in 24 Mangelberufen.

Oben schwach, unten miserabel

Die Kombination von oben schwach und unten miserabel finden wir an allen Ecken und Enden unseres Bildungssystems. So beträgt der Anteil der Personen mit einem tertiären Abschluss an allen 25- bis 64-Jährigen ("Akademikerquote") höchst peinliche 14,9 Prozent. Alle vergleichbaren Länder, von der Schweiz über Holland, Dänemark und Belgien bis Schweden, Finnland und Estland, liegen mit Quoten zwischen 34 und 38 Prozent bis zum Zweieinhalbfachen darüber. Wir grundeln zwischen der Slowakei (16 Prozent) und den Türken (13) unter "ferner liefen" herum. Österreich kämpft mit über einem Viertel der 15-Jährigen, die nicht lesen können, um die Pole-Position bei den Grundlagenschwachen der OECD. Nachhaltig unterstützt von rund 800.000 Analphabeten. Für viele sind wir bereits auf dem Sprung zurück in die Kategorie der bildungspolitischen Entwicklungsländer.

Wir haben viel zu lange nichts getan, sondern alles schleifen lassen. Wir schicken Jahr für Jahr die 30 Prozent der Zehnjährigen "aus besseren Kreisen" in die Gymnasien und die "restlichen" 70 in die Hauptschule. Das geschieht so nur noch bei uns und in Ungarn, sonst nirgendwo auf der Welt. Gleichzeitig verfrachten vor allem die Gymnasien sämtliche behinderten, schwierigen und auffälligen Kinder in Sonderschulen. Dorthin kommen auch die "Spätzünder" und die einseitig Begabten, die Legastheniker, die Hör- und Sehbehinderten sowie die sogenannten Leistungsschwachen, und schließlich noch die, die nicht Deutsch können. Zurück bleiben homogene, artifizielle Scheinwelten, die mit der Realität einer pluralistischen Gesellschaft nichts mehr zu tun haben. So viel zur Vielfalt und Heterogenität.

System gleich indischem Kastenstaat

Was die Offenheit unseres Bildungssystems betrifft, so gleicht dieses weit eher einem indisch-asiatischen Kastenstaat als zeitgemäßen europäischen Schulen. Kaum in einem anderen Land hängen die Lernerfolge der Kinder dermaßen von ihrer Herkunft ab wie bei uns: Hat der Vater nur Pflichtschule, so erhält sein Kind folgende Pisa-Punkte: in Lesen 399, in Mathe 432 und in Science 421. Hat er Lehre/BMS, dann sind die Punktwerte 455, 481 und 479. Hat er Matura, hat das Kind 483, 504 respektive 503 Pisa-Punkte. Und hat der Vater einen Uni-Abschluss, dann gibt es 520 Punkte in Lesen, 543 in Mathe und 545 in Science. Der Unterschied zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Punktewert beträgt 111 in Mathe, 121 in Lesen und 124 in Science. Das sind im Durchschnitt mehr als zwei Jahre (!) Bildungsdifferenz zwischen gleichaltrigen Kindern von Vätern mit Pflichtschulabschluss und solchen mit Uni-Abschluss.

Warum ist das so - und wie kann man es ändern? Hier braucht man, wie schon Emmy Werner gezeigt hat, vor allem neue Strukturen und Standards. So steht es in der erwähnten Schweizer Studie schwarz auf weiß: "Je länger Schülerinnen gemeinsam lernen, desto geringer wird der Einfluss ihrer Herkunft auf ihre Leistung." Wer bereits mit zehn Jahren getrennt wird und in die Hauptschule geht, taucht in eine Welt ein, in der mehr als ein Lehrabschluss oder eine BMS nicht üblich sind. Also haben bei uns tatsächlich 51,5 Prozent der 25- bis 64-Jährigen solche Abschlüsse, aber nur 14,4 Prozent Matura und 14,9 Prozent ein Hochschulzertifikat, zusammen also knapp 30 Prozent eine höhere Bildung. Zählt man zu den 51,5 Prozent noch die 19,2 dazu, die keinen oder nur einen Pflichtschulabschluss zustande gebracht haben, so kommen wir in der Berufswelt immer wieder da an, wo wir seit vielen Jahrzehnten bei den Zehnjährigen anfangen: Die 30 Prozent, die jährlich ins Gymnasium gehen, treten in derselben Stärke als Maturanten und Akademiker in einen Beruf ein; und die 70 Prozent Hauptschüler bleiben lebenslang "bei ihrem Leisten" als Pflichtschüler, Lehr- und BMS-Absolventen.

Teufelskreis beenden

Mit anderen Worten: An einer gemeinsamen Schule bis zum Ende der Schulpflicht führt kein Weg vorbei, wenn wir den Teufelskreis der ewig gleichen Vererbung von Bildung beenden wollen. So wie uns das die OECD und die EU seit langem empfehlen und es zwei Drittel aller OECD-Staaten längst schon machen. Wir brauchen ein zweites verpflichtendes Jahr vor dem offiziellen Schulbeginn und ein qualitäts- und liebevolles Angebot an Krippenplätzen ab dem ersten Lebensjahr. So wie die EU empfiehlt: für 33 Prozent der Ein- bis Dreijährigen. Tatsächlich erreichen wir knapp 15.

Der entscheidende Beitrag zur Resilienzverbesserung ist ein neuer Unterricht. Wir müssen alle Begabungen aller Kinder so früh wie möglich feststellen und systematisch fördern. Nur dann wird es mehr und bessere Spitzenschülerinnen geben. Gleichzeitig sind einzelne Schwächen der Kinder durch Förderung auszugleichen. Erst dadurch können wir hoffen, dass die erschreckend hohe Zahl der Risikoschülerinnen in Österreich sinkt. Schließlich brauchen wir Ganztagsschulen als Regelschulen, das heißt ohne Zwang, aber als normales, qualitätsvolles Angebot. Dazu müssen, wie schon in 19 OECD-Staaten üblich, natürlich alle Lehrerinnen ganztägig anwesend sein. Sie erhalten einen tauglichen Arbeitsplatz und Unterstützung durch Verwalter, Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Sprachenlehrerinnen. Nur wenn sich Lehrer- und Schülerinnen im Unterricht, bei Projekten, Theateraufführungen, in der Freizeit und beim gemeinsamen Essen treffen, entstehen jene engen Beziehungen, die für die Resilienz und das Selbstbewusstsein der Jugend entscheidend sind.

Auch beim Umgang mit Behinderten sowie anderen Kulturen und Religionen ist natürlich die Integration bzw. Inklusion jeder Aussonderung vorzuziehen. Vor allem geistig Behinderte bereichern einen Klassenverband durch ihre faszinierende Emotionalität, ihre häufigen künstlerischen Fähigkeiten und die schlichte Tatsache ihrer Existenz. Wo es solche Behinderte gibt, wächst der von Emmy Werner hervorgehobene "Wille zur Sorge um andere" als wesentliche Voraussetzung von Resilienz. Ebenso positiv und anregend sind junge Menschen aus anderen Kulturen und fremden Religionen.

Fassen wir zusammen: Ein Patentrezept für eine neue österreichische Schule ist die Idee der Resilienzgewinnung vermutlich nicht. Aber einen Versuch wert ist sie allemal. (Bernd Schilcher, ALBUM, DER STANDARD, 4.1.2014)