Wer in den 1950ern vor deutschem Publikum für Sigmund Freud eintrat, übte im Interesse der Seelenforschung Zurückhaltung. Ludwig Marcuses kleine Biografie über den Erfinder der Psychoanalyse, erschienen 1956, ist ein Meisterstück der Werbepsychologie. Der deutsch-amerikanische Philosoph (1894- 1971) versteht es nicht nur, den Gegenstand brillant zu vermitteln, er zieht ihm obendrein die Giftzähne. Freuds Seelenkunde leidet häufig genug unter der Entrüstung derjenigen, die ihr ein Wohlgefallen an der Schlüpfrigkeit unterstellen. Marcuse ist kein Freund von Halbherzigkeiten. Er tritt nur energisch dem Eindruck entgegen, der Vater der Psychoanalyse hätte aus der Übermittlung der Botschaft von den Trieben persönlich Lustgewinn gezogen, mit der Sexualität Allotria getrieben.

Seine Werbebotschaft tarnt sich raffinierter. Sie besteht im Nachweis der absoluten Lauterkeit, die Freud dazu veranlasste, aus klinischen Einsichten die Lehre von der Seele zu gewinnen. Diese ist in vielem unbehaglich genug. Marcuse nimmt öfter den Namen Schopenhauers in den Mund, um dem Helden seiner Monografie einen Geistesverwandten anzudichten, den dieser auch verdient: einen zur Skepsis verpflichteten, trotzdem höflichen Pessimisten. Freud ist der Vertreter des Realitätsprinzips. Seine Lehre von der unbewussten Natur so vieler menschlicher Regungen dient nicht allein der Erhaltung seelischer Gesundheit. Sie ist das Therapeutikum zur Abwehr von Illusionen im kulturellen Maßstab. Ludwig Marcuses Schrift Sigmund Freud erhält durch das allemal noch flackernde Licht der Vernunft den Wert einer Überprüfung. In ihr wird der Lehre von der Sublimation viel Augenmerk geschenkt. Es ist Freud selbst, der am meisten leidet, wenn er schlechte Nachrichten überbringt. Vollends furios ist Marcuses Rekonstruktion dessen, was der Diagnostiker über die Regung der Angst zu sagen wusste. Er nähert sich hier gleichsam auf Zehenspitzen einem Geheimnis psychoanalytischer Theoriebildung.

Angst resultiert zum einen aus einer Hemmung der Sexualfunktion. Libido-Stauung übersetzt sich in Psychisches. Doch nicht die Verdrängung schafft Angst, sondern die Angst Verdrängung. Freuds innerpsychische Angst-Hypothese entzieht der Physiologie die Grundlage. Menschliche "Ur-Angst" entspringt nicht einfach dem Trauma der Geburt, wie Otto Rank meinte. Freud beschreibt die Notwendigkeit, Angst "gegenständlich" zu machen. Neurotisch Furchtsame verharren auf einer infantilen Entwicklungsstufe der Angstabwehr. Es hilft alles nichts: Nur zu bereitwillig begibt sich der Mensch in die Abhängigkeit einer "Schutzherrschaft", um der Hilflosigkeit zu entrinnen. Niemand kommt von der Schürze der Mutter los.

Die Trennungsangst ist etwas Größeres, auch Bedrohlicheres als hilfreiche Furcht. Freuds Prägung dieses Geheimnisses ist rätselhaft. Sie wird von Marcuse mit Schaudern notiert: "das Auftreten eines traumatischen Moments, das nicht nach der Norm des Lustprinzips erledigt werden kann." Es wäre das Trauma aller Traumata, die Angst aller Ängste: die Niederlage, die schwerer wiegt als alle Siege und Niederlagen zusammen.

Marcuse kommt auf Kierkegaard zu sprechen, den christlichen Angstphilosophen. Den Missklang der Freud'schen Angstkatastrophe bekommt der Leser aber nicht mehr aus dem Ohr. Angst ist das Wissen um die Unaufhebbarkeit der Furcht. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 3.1.2014)