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Ein Rennläufer stürzt sich auf der Streif Richtung Hausbergkante. Unten warten Flaggenmeere, Oligarchen, Jagatee und Autor Albert Ostermaier.

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Wien - Kitzbühel ist eine Tiroler Kleinstadt, die traditionell als Vorort Münchens gehandelt wird, aber trotzdem als heimliche Hauptstadt Österreichs gilt. Dank der Verschränkung früheren Wirtschaftstreibens wie des Kupfererzabbaus mit den heutigen Wintersportmöglichkeiten zählt Kitzbühel seit jeher zu jenen Orten, in denen die Träume vom besseren Leben mit barer Münze gezahlt werden müssen.

Hier gelangen Älplertum und die Welt zumindest einmal im Jahr aneinander und damit ganz zu sich selbst. Mia san mir - und es geht um nichts. Aber es geht auch um alles. Ruhm, Glück und Geld. Und die Musi spielt dazu. Lokalpatriotismus gleich Weltgeist mit Seppelhut. Besseres Leben wird bei uns gern mit Besserverdienen verwechselt. Am besten überhaupt wäre ein Goldpokal dafür, dass man zwei Minuten Todesgefahr in der Schussfahrt möglichst schnell überlebt.

So ist es auch kein Wunder, dass alljährlich an einem Wochenende im Jänner die halbe Welt auf die Streif blickt. Dort stürzen sich junge stramme Männer bei teilweise 85 Prozent Gefälle den kunstbeschneiten Hahnenkamm hinunter. Das Publikum schmiert sich die Landesfarben ins Gesicht, läutet dazu mit Kuhglocken und hofft bei jedem Jagatee-Rülpser insgeheim, dass sich einer der Abfahrtsrennläufer doch bitte ein bisserl so in den Steilhang und die Hausbergkante legen möge, dass danach der Rettungshubschrauber notwendig wird. Man nennt das gemeinerweise Volkssport.

Etliche Russen haben dieses Sinnbild eines Kapitalismus, der nicht ohne Gefahr für Leib und Leben möglich ist, als neue Wahlheimat auserkoren. Auf die Ski stellen sie sich zwar selten, dafür ist der Schnee eine zu unsichere Geschäftsgrundlage - aber bei Trüffel-Gröstl, Alpen-Austern und drinnen im VIP-Zelt bei den bayerischen Autohändlern, ehemaligen Skirennläufern und B-Promis sind sie dick dabei. Der Rest ist Staffage für die eingeladenen Businesspartner.

Erst bei einem Gladiatorenkampf entfaltet rotes, kurz angebratenes Fleisch, das von einem eingeflogenen Starkoch auf der Panoramaterrasse in der Altstadt zubereitet wird, seinen vollen Geschmack. Unterhaltungsdamen und Freizeitdrogen gibt es auch, dazu die üblichen Vorzeigeeinheimischen in Fantasietrachten, die das mit den Haus- und Wohnungskäufen im Heiligen Land regeln müssen. Grund und Boden werden bei uns nicht gern an die Fremden abgetreten, über die Selbstachtung lässt sich reden.

In diese gebirglerische Vorhölle, in die zu allem Unglück auch noch ein Schneesturm biblischen Ausmaßes braust, hat sich nun der Münchner Autor und Dramatiker Albert Ostermaier für seinen neuen Roman Seine Zeit zu sterben begeben, um den Grenzbereich zwischen Leben und Tod und seinen diversen Mischformen zu untersuchen. Ein seltenes Unterfangen. Zwar finden sich im deutschen Sprachraum traditionell jede Menge Berge, aber nur wenige Autoren, die dort auch hinaufhatschen wollen. Als Vergleich mit Ostermaiers Roman muss deshalb auch zwangsläufig Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten herhalten, eine längst als Klassiker gehandelte Ideengeschichte der lebenden Toten mit Gamsbart und herzhafter Kost in Einkehrschwunglokalen.

Vorhölle im Schnee

Wie Jelinek vermischt Ostermaier in seinem äußerst lose als "Thriller" angelegten Sittenbild dafür die Stilmittel der freien Assoziation und lyrisch extrem verdichtete Klischeefallen zwischen Kaviar und Koks, Knödeln und Kanaillen. Er kombiniert dieses Feuerwerk der Abgeschmacktheit auch noch genüsslich mit Elementen der Trashliteratur:

"Es herrschte der alljährliche Ausnahmezustand, überall waren Holzhütten aufgebaut, Glühweinstände, improvisierte Fanshops, Flaggenmeere, Schneekugeln, Hansi-Hinterseer-Spannbetttücher, Toni-Sailer-Masken mit Strohhalm, Streifreizwäsche mit Zielhang, Armenpelze, Reichenpelze, Würstel, Eitrige, Geplatzte, Bockwürste, Jagertee, Schnaps, Feuerkessel, Leuchtraketen, Tröten, ein unerträglicher Lärm, alle Lautsprecher im Jodelstreit, aber wie gleichgeschaltet in ihrem dröhnenden Trillertinnitus."

In den wenigen bisher vorliegenden Rezensionen wird dem Buch daraus auch gern ein Strick gedreht. Zu holzschnittartig seien die Figuren, zu schwülstig die Sprachbilder, zu abgedroschen die "Handlung". Gerade dies aber sind die Vorzüge dieses Purgatoriums. Es ist egal, wer am Schluss gut oder böse ist - und wer warum nicht oder doch gerettet werden muss. Ein besseres Leben ist für die Menschen, die schon tot sind, nicht mehr zu haben - aber niemand ist da, um es ihnen zu sagen. Ob gelangweilter Oligarch, melancholischer Leibwächter, frustrierte Architektengattin, gefallener Skisportheld oder zynischer Anwalt mit Restgewissen: Die Kuhglocken im Zielroman taugen für sie alle als Totenglocken. Nur ein entführtes, ängstliches Kind ist vielleicht noch am Leben. Aber was heißt das schon? (Christian Schachinger, DER STANDARD, 3.1.2014)