Und dann, in wenigen Bruchteilen einer Minute, hat er uns vorgeprägten, natürlich erwartungsvoll gestimmten, aber auch von den Usancen des Musikbetriebs gedopten Hörern gezeigt: Wir alle sollten nicht in den biografischen Notizen kramen. Wir sollten nicht in Kindheit und Jugendproblematik, im Familienalbum eines Wundermannes stöbern. Wir sollten nur hören, wie er Schuberts B-Dur-Sonate in eigenem "Tempo", mit eigenen Verzögerungen, mit eigener Färbung der so verfänglichen, kaum zu artikulierenden Basstriller auf eine lange Reise schickt.
Prüfende Kräfte
Man musste zunächst an Richters schier lähmende Intonation des Hauptthemas denken, auch an Afanassievs Zeitlupenmikroskopie. Aber dann waren es doch die unverwechselbar nachdenklichen, prüfenden Kräfte eines Musikers, der sich den Schönheiten, den lieblichen Abgründen eines Werkes aussetzt, die dominierten, als habe er nichts anderes mitzuteilen als seine eigenen, ureigenen Erwägungen und Einsichten.
Hatte man also im ersten Teil dieses Festspiel-Solistenkonzerts zu Musik bald verzauberte, bald ehern gegossene Gedankenarbeit am akustischen Wegrand der Schmerzlichkeit erlebt, so schien es im zweiten Teil, als bitte Kissin nun zur - gleichwohl geistvollen - Virtuosenfreizeit.
Wonniglich abgestufte "Ständchen"-Perspektivik und schweifende, sinngemäß aufgebauschte "Aufenthalts"-Gebärden in den Schubert/ Liszt-Transkriptionen. Sprechend-singend disponierte Brillanz in den "Ohne Worte"-Kaskaden des Lisztschen Sonetto 104 del Petrarca. Und gesunde, klanglich vielleicht eine Spur zu gutmütige, in den akrobatischen Teilen gelegentlich etwas schwerblütige Virtuosität im Mephisto-Walzer Nr. 1, in dessen Mitteilteil die Tonrepetitionen endlich einmal wirklich als Musik und nicht als Cramer-Etüde abgetönt blieben.