Wenn man nach Gründen für geschichtsphilosophische Verzweiflung sucht, kann man sie im aktuellen Verhalten von China und Japan finden. Die Führungen beider asiatischen Nationen weigern sich, aus der schrecklichen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu lernen – und werfen dem jeweils anderen vor, genau das zu tun.

Konkret hat der rechtsnationalistische japanische Premier Shinzo Abe jetzt demonstrativ den Yasukuni-Schrein in Tokio besucht, in dem einiger der ärgsten japanischen Kriegsverbrecher gedacht wird. Dies bewog die chinesische Führung zu wütenden Protesten. Gleichzeitig wurde aber offiziell der 120. Geburtstag von Mao Tse-tung gefeiert, der zwar der Begründer des modernen China ist, aber ebenfalls den Tod von Abermillionen verursacht hat.

China hat einigen Grund, sich über die japanische "Vergangenheitspolitik" zu erregen, denn es war seit spätestens 1931 Opfer der geopolitischen Aggression der Japaner. Das Kaiserreich, beherrscht von einer ultranationalistischen und tief rassistischen Herrenmenschenideologie, marschierte in der Mandschurei (Nordchina) ein und errichtete dort ein überaus brutales Ausbeutungs-und Vernichtungsregime. 1937 fiel Japan auch in großen Teilen des restlichen China ein und tötete dort durch Massaker, Verbreitung von Seuchen, Verwüstung ganzer Landstriche und bewusst herbeigeführte Hungersnöte eine zweistellige Millionenzahl von Chinesen (insgesamt summieren sich die Opfer der japanischen Expansionspolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges in Ostasien auf rund 30 Millionen, die Mehrzahl davon ethnische Chinesen). Es gab zwar nach 1945 Kriegsverbrecherprozesse durch die Amerikaner, aber die Ehrung einiger der Hingerichteten seitens Shinzo Abes wird von einem beträchtlichen Teil der japanischen Bevölkerung durchaus gutgeheißen.

In China kämpfte Mao auch gegen die japanischen Besatzer, fast mehr aber gegen seinen inneren Hauptfeind, die "rechte" Kuomintang . Nach dem Sieg 1949 erklärte er, um die Landreform (Kollektivierung) umzusetzen, werde man wohl zehn Prozent der Bauern "vernichten" müssen. Das wären 50 Millionen gewesen, die echte Opferzahl war dann eher bei einer Million. Zusätzlich wurden 1,5 Millionen "Klassenfeinde" erschossen.

Dafür war dann der "Große Sprung vorwärts" (1958–1961) "ergiebiger". Die Hungersnöte, die dadurch ausgelöst wurden, dass die Bauern im Hinterhof Stahl kochen mussten, statt sich um Saat und Ernte zu kümmern, forderten zwischen 30 und 45 Millionen Todesopfer. Die von Mao 1966 ausgelöste "Kulturrevolution"  kostete dann "nur" etwa eine Million Leben.

Die offizielle Version in China ist bis heute, dass Mao zu "70 Prozent ­Gutes und zu 30 Prozent Schlechtes"  bewirkt habe. In Japan werden die Verbrechen zum Teil als Kriegsnormalität empfunden bzw. wie die zehntausenden Zwangsprostituierten in den besetzten Ländern ("Trostfrauen" ) überhaupt geleugnet (auch von Shinzo Abe). In diesen beiden wichtigsten Staaten Ostasiens ist echte Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen kein wirkliches Thema.  (DER STANDARD, 28.12.2013)