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Frankreichs Sozialsystem versucht, soziale Härtefälle abzufedern. Ohne Weihnachtsprämie kommen sonst alleinerziehende Mütter oder alte, arme Menschen kaum über die Runden.

Foto: Lionel Cironneau/AP

Es ist ein ziemlich einzigartiger Weihnachtsbrauch: In Frankreich schüttet Père Noël, der Weihnachtsmann, sein Füllhorn auch im Auftrag des Staates aus. Rund 2,2 Millionen Franzosen erhalten dieser Tage eine "Weihnachtsprämie". Sie beträgt 152,45 Euro für eine alleinstehende Person oder 381,13 Euro für eine fünfköpfige Familie. Nutznießer sind unter anderem ausgesteuerte Arbeitslose, mittellose Pensionisten und oft auch alleinerziehende Mütter mit niedrigem Einkommen.

Eingeführt hatte diese "prime de Noël" der sozialistische Premier Lionel Jospin 1998 auf Druck der Arbeitslosenverbände. Mit dem hierzulande oder auch in Deutschland vom Arbeitgeber bezahlten Weihnachtsgeld hat diese staatliche Prämie nicht zu tun. Heute, fünfzehn Jahre nach ihrer Einführung, ist diese Prämie eine von vielen, mit der die Nation für ihre Bürger sorgt; ja sorgen muss.

Prämien für viele Situationen

Wer in Frankreich lebt, erhält mehrere solcher Zulagen, zum Teil sogar unabhängig vom Einkommen. Bei der Geburt gibt es zum ersten Mal Geld, danach auch für die Kinderkrippe und später für den Kindergarten und die Schule. Jeden Herbst erhalten bedürftige Eltern eine "Schulbeginn-Prämie", um die Sprösslinge mit Schulsachen auszustatten.

Der Staat denkt an alles: Wer die Wohnung wechselt, erhält je nach Einkommen eine "Umzugsprämie", wer sein Haus heizt, eine "Tankprämie", und wer verreist, sogar eine "Urlaubsprämie". Pensionisten haben Anspruch auf bis zu zehn "primes". Bloß fürs Sterben gibt es keine Prämie mehr.

Frankreich gilt als größter Sozialstaat weltweit. Ein Drittel seiner Wirtschaftsleistung - Europa-Schnitt: 29 Prozent - fließt in die Kinderhilfe, die Pensionen, die Arbeitslosenversicherung oder eben diese Sozialprämien. Auch in der Familienpolitik ist das Land führend: Um die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft zu erhöhen, fördert der französische Staat seit bald einem Jahrhundert bewusst Kindergärten, Horte und Tagesschulen, sodass in der Theorie jede Mutter arbeiten kann.

Der Glauben an den Staat

Eine solche Politik - die als Kehrseite eine zumindest im Euroraum unerreichte Steuerlast zur Folge hat - wird von der Bevölkerung nur akzeptiert, wenn der Glaube an die tragende Rolle des Staates da ist. In Frankreich ist er vollkommen. In Paris ist es normal, dass ein wichtiger Konzernchef (unlängst etwa jener von Peugeot-Citroën) bei der Regierung vorsprechen muss, wenn diese an der Strategie der Privatfirma etwas auszusetzen hat. Franzosen erwarten alles vom Staat - sogar ihr Glück: So beauftragte etwa Präsident Nicolas Sarkozy (2007-2012) Nobelpreisträger Joseph Stiglitz mit der Überlegung, ob bei der Berechnung des Bruttoinlandproduktes nicht auch ein "Zufriedenheitsfaktor" mitspielen sollte.

Dass der Staat die Bürger aushorcht und überwacht, schockiert diese keineswegs: Während Paris jüngst den US-Botschafter vorlud, um gegen die NSA-Bespitzelung zu protestieren, regt sich kaum jemand darüber auf, dass der französische Geheimdienst erst kürzlich genau die gleichen Kompetenzen erhalten hat. Nach französischem Selbstverständnis ist der "État" jenes Ganze, das die Ansichten des Individuums vereinigt. Er verkörpert Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und vermittelt ein Gefühl des Aufgehobenseins. Deshalb kümmert sich der französische Staat um alles - und deshalb verteilt er Prämien für alle Lebenslagen.

Mit wenig Geld leben müssen

Heutzutage verstärkt sich zwar die Kritik an dieser "republikanischen" Großzügigkeit. Aber in Krisenzeiten wie jetzt zeigt sich, dass etwa die Weihnachtsprämie keinerlei Luxus ist. In einem Internetforum rechnete kürzlich eine junge Frau auf Euro und Cent genau vor, wie sie mit ihren zwei Kleinkindern über die Runden kommen muss, nachdem ihr Mann sie verlassen hat: Aus Teilzeitarbeit und Sozialprämien bezieht sie 767 Euro. Davon entfallen 583 Euro auf Miete, Rechnungen, Steuern und Telefon. Es verbleiben 184 Euro für den Alltag, Essen inklusive. Dank der "prime de Noël" erhält die Kleinfamilie 274 Euro. "Sonst gäbe es für die Kleinen keine Weihnachtsgeschenke", meint die Französin.

Ein Einzelfall ist das nicht: Laut der Armutskonferenz in Paris zählt das Land mit seinen 65 Millionen Einwohnern heute 8,6 Millionen Erwachsene, die mit weniger als tausend Euro im Monat überleben müssen. Nur ein Viertel erhält die Weihnachtsprämie. Fast 6,5 Millionen gehen hingegen leer aus. Und ihre Kinder zu Weihnachten dann wohl auch. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 23.12.2013)