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Applaus für die neue Regierung und ihre Vorhaben? Ach, steckt eure Köpfe doch noch mehr in den Sand - oder vorweihnachtlich in den Schnee.

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Andres Braun: "Beteuerungen, versprochene Bilanzen über den Sitzfleischabrieb der teuren Experten sowie Deko-Vokabular."

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Vielleicht sind es die Gene meiner romantischen Mutter, die in mir sowohl den Glauben an die Zumutbarkeit von Wahrheit als auch die Hoffnung auf den Austausch des Guten gegen das Bessere hartnäckig aufrechterhalten.

Mit solch angeborener Naivität stürzte ich mich in das Arbeitsprogramm der österreichischen Bundesregierung mit dem zündenden Motto "Erfolgreich. Österreich". Nach zwei Stunden war ich bei der vorletzten Seite 123 angelangt, wo steht, dass eine umfassende Reform des Finanzausgleichs dringend zu erfolgen habe, der bestehende Finanzausgleich aber bis 2016 verlängert wird, um Zeit für eine Reform (an deren baldige Umsetzung ich schon Ende der 1970er-Jahre als in die Finanzausgleichsverhandlungen involvierter Jurist glaubte) zu gewinnen.

Wie beim Finanzausgleich, so bei der Bildung, bei den Pensionen, beim Föderalismus, bei der Staatsverschuldung, bei der Entbürokratisierung: allenthalben vorbehaltsschwangere Beteuerungen des dringlich Notwendigen, sodann Vertröstungen auf neue Alibi-Gremien (z. B. Aufgabenreform- und Deregulierungskommission) mit versprochenen Jahresbilanzen über den Sitzfleischabrieb der teuren Experten sowie Deko-Vokabular samt dem EU-Jargon entliehenen Anglizismen wie "cutting-red-tape-Prozess" oder "golden plating"!

Nach dem Lesen des Papiers befielen mich staatsbürgerliche Multiorganschmerzen! Die gefährliche Drohung des 51-Prozent-Partikularinteressenvereins SVPÖ, sich unter den Ambitionspegel dieses Landes zu ducken, tut weh! Die Perspektive, dass die in einer "Unterdurchschnittsfalle" verklemmten Kleingeister den Möglichkeitsraum Österreichs mit funebrer Wollust weitere fünf Jahre lang verwalten, löst nicht nur bei mir, sondern diesmal auch bei hartgesottenen Österreichern Empörung aus!

Meine Wut bei der Lektüre wurde durch das Anhören der parlamentarischen Regierungserklärungen des lieben Werner und des lieben Michael noch heftiger. Beide beschworen in harmonischem Trotz, wie gut es uns allen gehe, ohne den Funken einer Reflexion über die tieferen Gründe, weshalb sich etwa vor vierzig Jahren eine Familie mit Alleinverdiener mehr leisten und ersparen konnte als heute Doppelverdiener samt den Ersparnissen der Großeltern oder weshalb wir durch etwa 50.000 Gesetze auf allen Landes-, Bundes- und EU-Ebenen in flotter Progression unserer Freiheit und unseres Geldes beraubt werden.

Beim Anblick der beiden ausgeglühten SVPÖ-Vereinsobmänner kam mir der jugendliche 94-jährige Stéphane Hessel in den Sinn, dem ich am selben Ort unter Absenz der politischen Prominenz im Parlament zuhörte, wie er sich sein in Europa millionenfach gelesenes Empört euch! von der Seele redete. Der liebe Werner und der liebe Michael studierten derweil wohl Immanuel Kant, der 1784 über die durch Faulheit und Feigheit selbstverschuldete Unmündigkeit nachdachte.

Es brachte nichts, die beiden stellten nämlich den Kant'schen Imperativ "Wage zu wissen und zu denken" frech auf den Kopf und blökten uns schamlos zu: Bitte räsoniert nicht, sondern glaubt uns einfach, strampelt weiter in euren Hamsterrädern, zahlt weiter noch mehr Steuern, um mit diesen die Systeme der unsere Macht erhaltenden Klientelen weiter zu finanzieren. Salopp gesagt, steckt eure Köpfe tief in den Sand (oder vorweihnachtlich in den Schnee), dann wird alles wieder gut!

Warum polemisiere ich gegen die hartnäckige Konvention, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, und staune kindlich, dass die SVPÖ-Kaiser nackt sind?

Mich besorgt die erschreckende Geistlosigkeit, mit der wir dem uns schlimmer als jede Diktatur normierenden und überwachenden Kontrollstaat Vorschub leisten. Wir müssen erkennen, dass in Wirtschaft und Politik nicht alte Feindbilder, sondern politisch allzu korrekte Themen wie Terrorismus, Schnellfahren, Rauchen, Lärm, Sich-gut-Benehmen, Mit-Babys-Spielen unsere Menschenwürde und Geldbeutel gefährden.

Nach dem Pareto-Prinzip lassen sich 80 Prozent eines Zieles mit 20 Prozent des Aufwandes erreichen, der Sprung auf 100 Prozent kostet dann das Fünffache! Bei der Regulierung aller Lebensbereiche bewegen wir uns schon lange in der roten Zone zwischen 80 und 100 Prozent. Ich müsste mich einfach damit abfinden, dass Harntests bei Flugreisen angesichts der Gefahr, aus Harnsubstanzen Bomben zu basteln, entgegen der Panik des Boulevards nicht verpflichtend werden und nicht alle Kindermöbel an ihren Ecken mit Schaumgummi zu verkleiden sind! Beide Vorschriften kommen jedoch so sicher wie das Amen im Gebet!

Die weltweite Debatte um diese unser Menschenbild fundamental erschütternde Thematik - siehe NSA - fand noch keinen Niederschlag in den sauber gescheitelten SVPÖ-Köpfen, die aus Angst um ihre Frisur nie gegen den Strom schwimmen werden. (Andreas Braun, DER STANDARD, 21.12.2013)