"Grundstücke werden immer rarer und immer teurer. Wir müssen uns nach Alternativen umsehen." Wohnhaus auf dem Dach des Shoppingcenters Wien-Auhof.

Rendering: Querkraft Architekten / vdx.at

In Limburg soll eine alte Autobahnbrücke in ein Wohn- und Büroprojekt umgebaut werden.

Foto: M 1:1 / Egenolf-Dehrn

Eine schnelle Runde durchs Shoppingcenter, Klamotten erstanden, Brille abgeholt, Monatseinkauf beim Merkur, und dann, mit Papiertaschen und Maisstärkesackerln bepackt und den zentnerschweren Einkaufswagen vor sich herschiebend, ab in den Lift, hoch in den vierten Stock und schnurstracks vor bis zur Wohnungstür.

Was sich heute noch wie der Lebenstraum eines mit Dollarzeichen auf die Welt blickenden Gewerbetreibenden anhört, könnte Mitte 2015 bereits Realität sein. Auf dem Dach des Einkaufszentrums Wien-Auhof nämlich plant die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) ein Wohnhaus für 200 Bewohner. Das exotisch anmutende Wohnprojekt könnte sich nicht nur als marketingtechnischer Kassenschlager herausstellen, sondern auch als wichtiger Beitrag zur Bewältigung der kontinuierlich steigenden innerstädtischen Grundstücksnot.

Alternativen gesucht

"Die Grundstücke in Wien werden immer rarer und immer teurer", sagt der Wiener Gemeinderat und Landtagsabgeordnete Christoph Chorherr (Grüne), der an der Erfindung des ungewöhnlichen Pilotprojekts maßgeblich beteiligt war. Schuld an der sinkenden Verfügbarkeit von Grund und Boden seien Bodenspekulation und veraltete, dem rasanten Wachstum der Stadt längst nicht mehr gerecht werdende Bebauungsbestimmungen. "Und nachdem für Bauträger, sofern sie Wohnbaufördermittel beziehen, von Gesetzes wegen bei 250 Euro pro Quadratmeter Baugrund Schluss ist, müssen wir uns allmählich nach Alternativen umsehen."

Eine solche Alternative, so Chorherr, sei beispielsweise die Stadt über der Stadt. Konkret geht es um die bisher ungenutzte Dachlandschaft von Supermärkten, Fachmarktzentren und Shoppingcentern, die nicht nur an der Peripherie wuchern, sondern bisweilen auch weit in die Innenstadt vordringen. Hoch oben, auf den Dächern von Billa, Hornbach und Co, schlummere ein enormes Potenzial, mit dem man der in vielen Städten herrschenden Grundstücksknappheit gezielt entgegenwirken könnte.

Eigenständige Gebäude

"Noch ist das Auhof-Projekt nicht unter Dach und Fach, aber ich denke, es wird alles gutgehen", meint Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA, seine Vorfreude nicht sonderlich unterdrückend. Die Schwierigkeiten bei diesem Bauvorhaben sind vor allem juristischer Natur, denn das Wohnhaus wird im sogenannten Baurecht errichtet: "Wir bauen ein vollkommen eigenständiges Wohngebäude aufs Dach eines Einkaufszentrums. Das hat es bisher noch nirgends gegeben. Das ist für uns alle juristisches Neuland."

Noch befindet sich der etwa sieben Millionen teure Wohnbau in der Detailplanungs- und Ausschreibungsphase. Im zuständigen Architekturbüro Querkraft telefoniert und tippt sich Tim Stahlhut, Projektleiter, die Finger wund. "Es handelt sich bei diesem Projekt um zwei vollkommen getrennte und unterschiedlich konzipierte Gebäude, die allerdings in konstruktiver und haustechnischer Hinsicht aufeinander Rücksicht nehmen müssen", so Stahlhut. Vor allem Brandschutz und Fluchtwegplanung bergen einige Tücken, die mit dem darunterliegenden Shoppingcenter koordiniert werden müssten.

Unten shoppen, oben wohnen

"Ich kann mir vorstellen, dass einige Menschen bei diesen Wohnungen Schwellenängste haben werden", meint Architekt Stahlhut. "Auf dem Dach eines EKZ zu wohnen ist keine Selbstverständlichkeit. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, die Dachlandschaft in eine hochwertige, gut funktionierende und charismatische Wohnhausanlage zu verwandeln."

Die insgesamt 82 Wohneinheiten - darunter auch Maisonette- und kleine Smart-Wohnungen - sind so angeordnet, dass sie sich mal zum Innenhof, mal zum nahe gelegenen Wienerwald, mal in Richtung Innenstadt orientieren. Ausblicke aufs umliegende Gewerbegebiet werden bewusst ausgeklammert.

Pilotprojekt

Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren wurde in Innsbruck mangels Grundstücksverfügbarkeit auf dem Dach des Einkaufszentrums West eine Schule errichtet (siehe Artikel). Das Bundesrealgymnasium in der Au wurde heuer mit dem BMUKK-Award "Bessere Lernwelten 2013" ausgezeichnet. Und was bei einer Schule funktioniert, so Stahlhut, könne sich auch im Wohnbau als Erfolg erweisen.

"Das ist ein Experiment, ein Pilotprojekt, das den Wohnbau in Wien nachhaltig verändern könnte", erklärt WBV-GPA-Chef Gehbauer. "Sollten die Mieterinnen und Mieter daran Gefallen finden, so wird das der Startschuss für ein Umdenken in puncto Bodenbereitstellung für geförderten Wohnbau sein." Noch konkreter formuliert es Christoph Chorherr, der sich dabei auf den neuen Stadtentwicklungsplan STEP 2025 stützt: "In den kommenden Jahrzehnten wird Wien um 250.000 Einwohner, also um die Größe von Graz wachsen. Wir müssen dringend dafür sorgen, dass genügend Flächenressourcen für Wohnungen sichergestellt sind."

Leben auf dem Supermarktdach

Schon jetzt kündigen sich die ersten Nachfolgeprojekte an: Etwa hundert Supermärkte in Wien, darunter auch die österreichischen Marktführer, wollen sich nach Auskunft Chorherrs der Idee anschließen und ihre bisher ungenutzten Dächer für Baurecht zur Verfügung stellen. In Summe geht es um etwa 300.000 Quadratmeter Bauland. Wien, so viel ist sicher, wird sein Gesicht radikal verändern.

Auch andernorts beginnt man bereits querzudenken. In Limburg an der Lahn, auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Köln, soll ab 2016 ein auf den ersten Blick bizarr anmutendes Wohnprojekt errichtet werden: Nachdem die 400 Meter lange A3-Lahntalbrücke für den zunehmenden Verkehr zu schwach dimensioniert ist, wird daneben eine neue, sechsspurige Autobahnbrücke errichtet. Der Neubau ist billiger und zeitlich effizienter als eine Sanierung und Verbreiterung des Altbaus. Geht es nach dem Investor und Entwickler Albert Egenolf, soll die alte Brücke nicht, wie geplant, um zehn Millionen Euro gesprengt werden, sondern das Fundament für einen neuen Wohn- und Office-Park bilden - in 60 Meter Höhe mit Blick auf die Limburger Altstadt.

"Eine epochale Chance"

"Zunächst einmal müssen wir die technischen Möglichkeiten überprüfen", sagt Albert Egenolf im Gespräch mit dem STANDARD. "Noch gilt es wichtige juristische, vor allem baurechtliche Hürden zu überwinden. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendetwas dagegensprechen wird. Immerhin leisten wir einen nachhaltigen Beitrag zur Umnutzung alter Bausubstanz und ersparen dem Steuerzahler auf diese Weise mehr als zehn Millionen Euro Abbruchkosten."

Das geplante Bauvorhaben umfasst 30.000 Quadratmeter für Wohnungen, Büroflächen, ein Hotel- und Kongresszentrum sowie diverse Einrichtungen im Bereich Gesundheit. Die vier Türme sollen an den Brückenpfeilern nach unten wachsen. Eine Lärmschutzwand soll oben, wo Grünflächen und Parkplätze entstehen, das exponierte Bauland vor Lärm und CO2-Emissionen schützen. Das kolportierte Budget beläuft sich auf etwa 60 Millionen Euro.

Bausünden wiedergutmachen

"Wir befinden uns jetzt in einer Epoche, in der es gilt die Bausünden aus den Sechziger- und Siebzigerjahren wiedergutzumachen und die Ressourcen dieser Bauwerke zu nutzen", so Egenolf, der das Projekt gemeinsam mit dem Erfurter Architekturbüro M 1:1 entwickelt. "Die Potenziale sind enorm. Man muss sie nur erkennen. Man muss nur mit etwas anderen Augen hinschauen als bisher gewohnt."

Die ersten innovativen Ideen für die Wohnnutzung brachliegender Grundstücke und bisher unbeachteter, meist innerstädtischer Flächenressourcen liegen auf dem Tisch. Nun liegt es an den Behörden, den Weg dahin zu ebnen. Dies nicht zu tun wäre angesichts der zunehmenden Verstädterung Europas und des damit verbundenen zunehmenden Wohnflächenbedarfs grob fahrlässig. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Album, 21.12.2013)