Die Würfeluhren und Körperwaagen sind noch heute identitätsstiftend. Sie werden so lange nicht aus dem Stadtbild verschwinden, wie sie ökonomisch verwertbar sind, ist Historiker Peter Payer überzeugt. Welche Rolle die "Mistkübler" spielen und warum es in Wien Anfang des 20. Jahrhunderts lauter war als in anderen europäischen Großstädten, sagt er im Interview mit derStandard.at.

Zugang zur Opernpassage, 1973. Foto: U.S. National Archives and Records Administration / wikimedia (public domain)
Foto: U.S. National Archives and Records Administration / wikimedia (public domain)

derStandard.at: Wir sitzen in der Opernpassage, die 1955 bei einem Volksfest mit Blasmusik vom damaligen Vizebürgermeister Karl Honay eröffnet wurde. Was machte damals die Faszination dieser Passage aus?

Payer: Sie war neu. Die Opernpassage war die erste Ringpassage, später folgten weitere. Man hatte plötzlich einen Platz, den man unterqueren konnte. Mit der Passage mussten die Bewohner auch einen neuen Umgang in der Stadt lernen. Zum Beispiel, wie man mit der Rolltreppe fährt. Die Lichtverhältnisse waren speziell, sie wurden originalgetreu rekonstruiert. Wo jetzt der Anker ist, gab es eines der ersten Espressos in der Stadt.

derStandard.at: Es folgten das Jonas-Reindl am Schottentor, die Babenberger-, und die Bellariapassage. Warum sind nur zwei erhalten geblieben?

Payer: Die Gewohnheiten, wie man sich in der Stadt fortbewegt, haben sich wieder geändert. Die Fußgänger können mittlerweile überirdisch gehen, ohne dass es gefährlich für sie ist. Ein Hauptargument, warum die Passagen gebaut wurden, war, die Stadt autofreundlicher zu machen. Man wollte die hohe Anzahl der Verkehrsunfälle an der Opernkreuzung reduzieren.

derStandard.at: War es Zufall, dass die erste Passage hier errichtet wurde?

Payer: Nein, die Opernkreuzung war immer schon ein neuralgischer Punkt in Wien, sie zählt auch heute noch zu den bekanntesten Plätzen.

Opernkreuzung, circa 1898. Foto: Josef Löwy / wikimedia (public domain)
Foto: Josef Loewy / wikimedia (public domain)

derStandard.at: 1926 wurde an der Opernkreuzung auch die erste Ampel Wiens errichtet.

Payer: Nicht nur die erste Ampel, die ersten markierten Wege für Fußgänger auf der Straße fanden sich an der Opernkreuzung. Das waren keine Zebrastreifen, sondern längsgeführte Streifen anhand derer man sich orientieren konnte. Bis dahin war es relativ verbreitet, kreuz und quer über die Straße zu gehen.

derStandard.at: Für Ordnung sorgte hier der Polizist Karl Schmalvogel.

Payer: Er wurde zum Karajan der Opernkreuzung geadelt. Er war in den 50er- und 60er-Jahren ein berühmter Zeitgenosse, der den Verkehr dirigiert hat und aufgrund seiner Bewegungen diesen Spitznamen erhalten hat.

derStandard.at: Welche Bedeutung hat die Opernpassage heute?

Payer: Sie hat an Bedeutung verloren, aber sie ist von der Frequenz her immer noch einer der wichtigsten Plätze in Wien, fungiert als Tor in die Innenstadt. Viele Touristen kommen über die Opernpassage in den ersten Bezirk. Da ihr Aussehen in die Jahre gekommen ist, hat sie vor Kurzem als Kunstmeile eine neue Identität bekommen.

Stadthistoriker Peter Payer in der Kunstmeile. Foto: Corn
Foto: Payer

derStandard.at: Funktioniert die Kunstmeile?

Payer: Es gibt weniger Geschäfte, der Gang ist stromlinienförmiger geworden, das Lichterleitsystem im Boden trägt dazu bei. Die Passage ist jetzt mehr Transitraum als Aufenthaltsraum.

derStandard.at: Sie betrachten in Ihrem Buch "Unterwegs in Wien" Merkmale Wiens in einem historischen Kontext. Was ist Ihnen aufgefallen?

Payer: Wien ist ein Mischwesen, sehr ambivalent. Diese Melange zieht sich durch meine Texte. Es geht um die Konfrontation alt versus neu. Wie hat man gelernt, sich in der Stadt zu bewegen? Wie entstand der "Urban Behaviour"? Wie geht man heute damit um? Es gibt Relikte, die sehr spezifisch sind und die man nur in Wien sieht. Die Würfeluhren oder die Personenwaagen sind Beispiele dafür.

derStandard.at: Wie kam es dazu, dass die Würfeluhren ein Merkmal Wiens wurden und immer noch sind?

Payer: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es für die Stadtbewohner zunehmend notwendig, eine genaue Uhrzeit zu haben. Kirchturmuhren gab es zwar schon seit Jahrhunderten, aber die waren relativ ungenau. 1907 wurde die erste kommunale öffentliche Uhr – an der Opernkreuzung – errichtet. Das war eine elektrisch angetriebene Uhr. Man sollte von jeder Seite erkennen, wie spät es ist. Weitere Uhren wurden am Westbahnhof und beim Schottentor aufgestellt.

Die erste Würfeluhr der Stadt wurde 1907 errichtet. Foto: Czernin Verlag
Foto: Verlag

derStandard.at: Der Höchststand war 1980 mit 78 Uhren, heute gibt es immer noch 73.

Payer: Aber die ursprünglichen Uhren sind demontiert und durch neue ersetzt worden. Sie waren in die Jahre gekommen und eine Reparatur war der Stadtverwaltung zu teuer. Daher gibt es jetzt ein Logo und ein neues Ziffernblatt. Die Originaluhren findet man im Museum.

derStandard.at: Heute sind die Uhren nicht mehr unbedingt notwendig.

Payer: Aus Identitätsgründen schon, die Bevölkerung hat eine hohe Affinität zu diesen Uhren entwickelt. Um die Zeit zu erfahren, brauchen wir sie nicht mehr. Wir schauen alle auf unser Handy oder die Armbanduhr.

derStandard.at: Auch die Personenwaagen sind noch nicht aus dem Stadtbild verschwunden.

Payer: Es gibt durchaus eine Parallele zu den Würfeluhren. Solange sie ökonomisch verwertbar sind, werden sie in der Stadt sichtbar sein. Die Personenwaagen funktionieren noch. Sie werden von einem Schlosser-Unternehmen aus dem Burgenland regelmäßig gewartet. Sie werden nicht mehr genutzt, um das Gewicht festzustellen, sondern sind heute ein Unterhaltungsmedium im öffentlichen Raum, etwa für Touristen.

derStandard.at: Warum waren die Waagen früher von Interesse?

Payer: Im Prater wurde bei einer Gewerbeausstellung Ende des 19. Jahrhunderts die erste aufgestellt. Für die Menschen war es spannend zu erfahren, wie viel Gewicht sie haben. Das Hygiene- und Gesundheitsbewusstsein hat sich damals entwickelt. Und generell gab es eine Erfolgsgeschichte der Münzautomaten, es gab Kaugummi-Automaten, die berühmten Pez-Automaten. Alle möglichen Waren konnte man sich aus Automaten ziehen.

Personenwaage am Wiener Karmelitermarkt. Foto: Payer
Foto: Payer

derStandard.at: Von Touristen, die Wien besuchen, wird man darauf angesprochen, dass Wien sehr sauber ist. Die "Mistkübler" haben nach wie vor einen hohen Stellenwert. Wie kam es dazu?

Payer: In den Jahren nach 1945 ging Wien den Wiederaufbau an, da gehörte das Saubermachen im öffentlichen Raum dazu. Es gab später auch gezielte Kampagnen, den "Festwochenputz" oder die "Frühjahrsreinigung". Auch die Mentalität der 60er-Jahre war entsprechend. "Kampelt, g'schneizt und g'striegelt", wie es Qualtinger sagte. Wien zeichnet sich dadurch aus, dass sehr viel von oben nach unten passiert, also von der kommunalen Verwaltung verordnet wird und der Bevölkerung beigebracht wird. Es herrscht keine Verbotskultur, sondern eine Aufklärungskultur. Das zeigt sich heute noch bei der Entsorgung des Hundekots, wo man auf Aufklärung und Verständnis setzt.

derStandard.at: Noch weiter zurück in der Geschichte gehen Sie in einem Text über das "geräuschintensive Steinpflaster". Der Journalist Max Winter hat bei Aufenthalten in europäischen Großstädten Vergleiche angestellt und ist zu dem Schluss gekommen, dass der Lärm Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris gedämpfter war. War da so?

Payer: Ich war damals nicht in Paris, Max Winter hat seine eigene Anschauung beschrieben. Es ist spannend zu sehen, dass sich Zeitgenossen von damals Gedanken über die Lärmverhältnisse gemacht haben. Aber das sind subjektive Wahrnehmungen. Das Ausmaß der gepflasterten Straßen war in Wien jedenfalls groß und die Asphaltpflasterung in Paris war wahrscheinlich leiser als es das Kopfsteinpflaster in Wien war.

Peter Payer: "Die Opernpassage war in den 50er-Jahren ein Aushängeschild der Modernisierung." Foto: Corn
Foto: Standard/Corn

derStandard.at: Die Opernpassage, sagen Sie, wurde geschaffen, um Platz für die Autos zu machen. Heute gibt es den entgegen gesetzten Trend: Man versucht, den Fußgängern Platz zurückzugeben. Was werden die Historiker in 30 Jahren über die verkehrsberuhigte Mariahilfer Straße schreiben?

Payer: Das würde ich auch gerne wissen (lacht). Die Mariahilfer Straße ist ein neuralgischer, umkämpfter Ort in der Stadt. In der Diskussion geht es letztlich wiedereinmal um die Frage: Wem gehört die Stadt? Die Zeit der 50er- und 60er-Jahre, wo man ganz klar die autogerechte Stadt propagiert hat, ist vorbei. Wir werden sehen, wie die Diskussion ausgeht.

derStandard.at: Als die Opernpassage errichtet wurde, gab es da auch große Diskussionen?

Payer: Man beschäftigte sich eher damit, wie man sich hier verhält. In den 50ern hat es noch keine Bürgerbewegungen gegeben. Der Umbau war von oben verordnet und die Opernpassage ein Aushängeschild der Modernisierung. Sie war ein Symbol für den Wiederaufbau. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 24.12.2013)