Kremlkritiker Michail Chodorkowski ist frei. Am Freitag wurde er auf Erlass von Präsident Wladimir Putin begnadigt und verließ das Straflager in Karelien. Am Nachmittag landete er dann in Berlin. Die Zukunft des einst reichsten Mannes Russlands bleibt offen.
Moskau/Berlin – "Aus gehend von den Prinzipien der Menschlichkeit ordne ich an, den Verurteilten Michail Borissowitsch Chodorkowski, Jahrgang 1963, geboren in Moskau, zu begnadigen und seine Haftstrafe auszusetzen" , heißt es im Erlass Wladimir Putins, der noch am selben Tag in Kraft trat. Russlands prominentester Häftling konnte damit nach zehn Jahren und zwei Monaten hinter Gittern noch am Freitag die Strafkolonie Segescha in der nordrussischen Teilrepublik Karelien verlassen.
Bilder von der Entlassung gibt es kaum – zu überraschend kam die Nachricht, zu abgelegen liegt das Lager. Am Nachmittag landete der lange Zeit wohl prominenteste Häftling Russlands dann mit einem Privatjet am Berliner Flughafen Schönefeld, wo er von der Bundespolizei abgeholt wurde. Aus Diplomatenkreisen war zu hören, die deutsche Botschaft sei an der Ausreise beteiligt gewesen und vor allem auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Anfangs hieß es, Chodorkowski wolle in Berlin seine Mutter Marina besuchen, die dort wegen einer Krebserkrankung behandelt werde. Wenig später wurde allerdings gemeldet, diese habe in Moskau auf ihren Sohn gewartet und nichts von seiner Ausreise gewusst. Sie werde heute, Samstag, nach Deutschland reisen. Ihr schlechter Gesundheitszustand soll laut Kommersant ein Grund für das Gnadengesuch sein.
Die Konfusion wurde auch daran deutlich, dass ein Agenturbericht über die Entlassung Chodorkowskis zunächst von den Behörden dementiert wurde, ehe dessen Anwalt Wadim Kljuwgant den Bericht bestätigte: "Wir haben gerade die offizielle Bestätigung von der Gefängnisleitung bekommen, dass Michail Borissowitsch frei ist und die Strafkolonie verlassen hat." Weiteren Angaben zum Aufenthalt seines Klienten könne er aber nicht machen.
Bis zuletzt hatte er sich geweigert, ein Gesuch einzureichen. Er sei aus juristischer Sicht unschuldig, seine Verfolgung politisch bedingt, hatte er stets betont. Seine Standhaftigkeit während der Haft hatte dazu beigetragen, das Bild von ihm in der russischen Öffentlichkeit zu revidieren.
Veränderte Rezeption
Als Chodorkowski im Oktober 2003 in Nowosibirsk verhaftet und später wegen Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt wurde, galt er bei den Russen als einer der dreistesten Vertreter der russischen Oligarchie, der kaum Mitleid verdiente. Er, der auf dem Gipfel der wirtschaftlichen Macht stand (Forbes kürte ihn mit einem geschätzten Vermögen von 15 Milliarden Dollar zum Krösus in Russland), hatte versucht, auch noch die politische Macht an sich zu reißen, und verloren.
Das Mitleid der Russen mit dem vierfachen Familienvater kam erst später. Das liegt zum Teil auch an der Metamorphose Chodorkowskis selbst. Aus dem zuweilen an Selbstüberschätzung leidenden Oligarchen wurde ein Häftling, der gegen alle Widerstände seine Würde bewahrte. Zum Kremlkritiker wurde er erst nach seiner Inhaftierung. Dort sprach er die Missstände in Russland (Korruption, Justizwillkür und Rückständigkeit) deutlicher an und forderte Freiheit – nicht für sich, sondern für Russland – eloquenter ein, als er es zuvor getan hatte. Weder die Haft noch die Zerschlagung des Yukos-Konzerns, dessen Reste dem Putin-nahen Funktionär Igor Setschin unterstellt wurden, machten ihn gefügig.
Der Kreml wertete das Gnadengesuch als Schuldeingeständnis. Plausibler klang die Version des Kommersant, der schrieb, Chodorkowski habe jüngst von FSB-Beamten Besuch bekommen, die ihm unmissverständlich klargemacht hätten, dass er nur jetzt vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi freikommen könne oder nie mehr. Weder ein Wiedersehen mit der kranken Mutter würde es dann geben noch mit Frau Inna oder den schon halbwüchsigen Kindern. Nach seiner Ankunft in Berlin erklärte Chodorkowski, er habe ein Gesuch aus familiären Gründen gestellt, aber keine Schuld eingestanden.
Die Drohung eines dritten Verfahrens kreist weiter über ihm. Eine dauerhafte Ausreise bedeutet sein Flug nach Deutschland aber wohl nicht: Chodorkowski hatte stets betont, in Russland bleiben zu wollen. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es, er könne sich im Land frei bewegen und habe nun Zeit, sein neues Leben in Freiheit zu planen. In der Vergangenheit hatte er angekündigt, beim Aufbau der Zivilgesellschaft in seiner Heimat mitarbeiten zu wollen. (André Ballin /DER STANDARD, 21.12.2013)