Heftige Leidenschaft, große Gefühle - von den großartigen Darstellerinnen Adèle Exarchopoulos (li.) und Léa Seydoux in "Blau ist eine warme Farbe" mit viel Einsatz und Hingabe verkörpert. 

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Abdellatif Kechiche: "Es gibt keine Vorschriften, wie man Liebesleidenschaft darstellt."

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STANDARD: Ihr Film erzählt eine heftige Liebesgeschichte zwischen der Schülerin Adèle und Emma, die auf dem Sprung in eine Künstlerinnenkarriere ist. Ist das in Ihren Augen eine Amour fou? Was ist eine solche überhaupt: die große Freiheit oder eine Krankheit?

Kechiche: Liebe ist für mich immer unerklärlich und verrückt. Die Gefühle sind so stark, dass man sein äußeres Verhalten kaum noch beherrscht. Liebe wirft die Ordnung des Verstandes über Bord. Man spürt diesen Zustand der Verrücktheit vor allem dann intensiv, wenn es zum Bruch kommt. Man durchleidet ihn wie eine Krankheit, und wenn wir geheilt sind, fragen wir uns, wie uns so etwas überhaupt zustoßen konnte.

STANDARD: Einmal führt Emma Adèle ins Museum, wo sie eine ganze Sammlung von Gemälden zum Motiv der nackten Badenden betrachten. Ein Vorspiel zur ersten sexuellen Begegnung der Frauen?

Kechiche: Das war keine intellektuelle Entscheidung. Ich fand diese Bilder im Museum von Lille einfach schön. Sie lösen eine erotische Stimmung aus, antworteten auf das, was ich ausdrücken wollte. Lust auf Körperlichkeit spielt da eine Rolle, auch der Kontext der Natur. Fleisch und Leib, Emotion und Befreiung.

STANDARD: Sehen Sie Adèle und Emma in den Liebesszenen Ihres Films ähnlich? Die beiden atmen, seufzen, bewegen sich ineinander, aber wirken wie perfekt ausgeleuchtete glatte Skulpturen.

Kechiche: Ich glaube, es gibt keine Vorschriften, wie man die Liebesleidenschaft darstellt. Was ich vermeiden wollte, war eine Begegnung zwischen gegensätzlichen Figuren, etwa einem schwarzen und asiatischen Gegensatzpaar. Und zwei Männer fand ich schon zu sehr dem Kanon entsprechend.

STANDARD: Adèle entwickelt sich zu Emmas Muse und zur Hausfrau. Ist der Rückfall in traditionelle Rollen bittere Ironie?

Kechiche: Ich beschreibe die Schwierigkeit, eine wirkliche Liebesgeschichte zu entwickeln. Nach der Leidenschaft muss etwas bleiben, eine andere Liebe. Die Unmöglichkeit einer Kontinuität zwischen ihnen habe ich eher an den sozialen Bedingungen festzumachen versucht. Die physische Anziehung widersteht nicht ihrem Verfall. Aber da erlaubt der soziale Unterschied zwischen Emma und Adèle ihnen nicht wirklich, zusammenzubleiben.

STANDARD: Sie zeigen Emma als Schülerin und später als Vorschullehrerin in einer multikulturellen Kultur. Ist das Ihr Traum?

Kechiche: Ich denke, das ist in Frankreich die Realität, vor allem in einigen Städten. Diese Frage nach der ethnischen Herkunft stellt sich unter den Jugendlichen nicht mehr. Ich wollte auf etwas anderes hinaus. Die Konflikte zwischen den Liebenden zeigen sich auf der Ebene sozialer Klassen.

STANDARD: Die Kunststudentin zählen Sie zur Bourgeoisie?

Kechiche: Vielleicht ist es das, was ich sagen wollte: Emmas Welt ist die Welt der Intellektuellen - künstlerisch, ökonomisch und auch, was ihre Nähe zum Kino angeht. Auf Emmas Party zeigt sich, dass Adèle nicht über die Codes verfügt, um sich sicher zu fühlen.

STANDARD: Sie rücken den Schauspielerinnen mit der Kamera auf den Leib. Das Als-ob scheint aufgelöst, sie verkörpern, statt zu spielen. Sie machen Zuschauer zu Komplizen.

Kechiche: Die Idee, Schauspielern beim Spielen zuzusehen, ist doch eine konventionelle kinematografische Vision. In meiner Vorstellung von dramatischer Kunst fusionieren Figur und Schauspieler. Spielen bedeutet wirkliche Inkarnation. Ich möchte, dass der Schauspieler lebt und nicht das Leben imitiert. Er muss die Maske lüften und seine Rolle ins Leben tragen. Das lässt den Schauspieler wachsen.

STANDARD: Ist er die Beute des Regisseurs?

Kechiche: Nein, gefährlich für die Psyche ist das nur, wenn er sich gegen den Arbeitsansatz stemmt und nicht mitmacht. Deshalb bin ich sehr genau, wenn ich jemanden engagiere. Ich sage vorher, welchen Einsatz ich verlange, damit das Handwerk Kunst wird. Wenn Sie auf die Gefahr anspielen, bleibt mir nur zu wiederholen, was ich auf die Kritik an meinem Arbeitsstil antwortete, die die Darstellerin der Emma, Léa Seydoux, geäußert hat. Es gibt gefährlichere Metiers, die mehr fordern als der Beruf des Schauspielers. Ich gebe zu, er ist nicht immer angenehm.

STANDARD: Was sind die gefährlichen Berufe?

Kechiche: Die Leute, die morgens mit der Metro zur Arbeit fahren, um am Ende einen miserablen Lohn zu kassieren. Denken Sie an Adèles Beruf, eine Erzieherin ist wirklich gefordert. Da ist es deplatziert, vom gefährlichen Beruf der Schauspieler zu reden. Ich komme aus Adèles sozialer Klasse und weiß, wovon ich rede. Denken Sie an die Leute, die uns hier im Hotel die Zimmer putzen. Da bereitet es mir Probleme, vom angeblich gefährlichen Schauspielerberuf zu reden.

STANDARD: Der Film kommt zu einer Zeit ins Kino, in der die Rechte in Frankreich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe polemisiert. Sehen Sie die lesbische Liebesgeschichte als Statement dagegen?

Kechiche: Ich war zur Zeit des Drehs überrascht von dem reaktionären Geist. Frankreich ist für mich Aufklärung und Avantgarde in Sachen Freiheit. Aber ich wollte mich davon nicht einengen lassen. Es war mir sehr wichtig, das Thema Homosexualität im Film vergessen zu machen. Die Zuschauer sollen sich mit den Figuren identifizieren, unabhängig von ihrer sexuellen Präferenz. Ich hatte Angst, mich zu frontal diesem Thema zu stellen. Militanz hätte den Film auf die Community der Interessierten beschränkt. (Claudia Lenssen, DER STANDARD, 19.12.2013)