Titelseite der linken türkischen Tageszeitung Sol vom Mittwoch: Die Glühbirne - Symbol der Regierungspartei AKP - ist geplatzt. Die Affäre um Korruption, Bestechlichkeit bei öffentlichen Aufträgen, illegalen Bauprojekten, Geldwäsche und Goldschmuggel in der Familie von Ministern bringt die Regierung in Trudeln.

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Sie sind rund 60 an der Zahl, und wenn es recht ersichtlich ist, steht nur eine bereits mit einem halben Bein in der Politik: Sümeyye Erdogan, Beraterin des Papas und Regierungschefs. Der Nachwuchs aller anderen türkischen Minister ist im Business oder – wenn noch zu jung – auf Eliteschulen. Alles brandgefährlich. Seit den Razzien vom Dienstag dieser Woche schaut die türkische Öffentlichkeit sehr viel aufmerksamer auf die Familien ihrer Regierenden. Der Lack ist ab von den sunnitischen Moralpredigern, freut sich die Opposition.

Burak Erdogan, ältester Sohn des Premiers, ist mittlerweile bei seinem sechsten Frachter angelangt. Seine MB Denizcilik mit Sitz im Istanbuler Stadtteil Üsküdar kaufte im November das 292-Meter-Schiffernakel „Pretty“ für angeblich 20 Millionen Dollar. Bilal Erdogan, der jüngere Bruder, macht auch etwas Klimpergeld und hat im Frühjahr zusammen mit Onkel Mustafa Erdogan ebenfalls eine Reederfirma und ein Bauunternehmen gegründet. Von Bilal behauptete die türkische Presse auch, er wäre in den Vorstand von BIM, des größten Discount-Unternehmens im Land, gekommen; der Papa musste deswegen eine parlamentarische Anfrage entgegennehmen – im Organigramm des Unternehmens taucht der Name des Erdogan-Sohnes dennoch nicht auf.

Wenn bei den Premierssöhnen alles mit rechten Dingen zugeht, hat die türkische Polizei aber Zweifel bei Bariş Güler, dem Sohn des Innenministers, bei Abdullah Oguz Bayraktar, dem Sohn des Umwelt- und Städtebauministers, und bei Salih Kaan Caglayan, dem Sohn des Wirtschaftsministers: Jazz-Musiker und Geschäftsanbahner für russische Unternehmer der eine (Bariş), Helfer des Baulöwen Ali Agaoglu der andere (Abdullah Oguz), Vorstand eines Aluminiumunternehmens des Onkels und Bruders des Wirtschaftsministers der dritte (Salih Kaan).

Razzien in Ankara und Istanbul

Sie sind Dienstagmorgen bei Razzien der Polizei in Ankara und Istanbul festgenommen worden, zusammen mit Baumagnaten, dem Direktor der staatlichen Halk Bankasi (4,5 Millionen Dollar Cash im Privathaus), dem Bürgermeister des konservativ-muslimischen Stadtteils Fatih im Zentrum von Istanbul, und diversen hohen Ministerialbeamten. Die drei Minister selbst sollen auch aussagen, so fordert die Staatsanwaltschaft, und bis zum Dienstagabend war nach Informationen türkischer Medien – offenbar unmittelbarer – noch ein vierter Minister in der Affäre um Geldwäsche, Bestechungen, illegalen Bauprojekten und Goldschmuggel im Visier der Ermittler: Egemen Bagiş, der Europaminister und Chefunterhändler bei den Beitrittsverhandlungen (Bagiş junior ist noch Schüler und widmet sich daneben dem Golfsport und der Computerwelt).

Rücktrittsrufe

Für Regierungschef Erdogan ist das alles der politische Super-GAU. Es hagelt Rücktrittsrufe von allen Seiten, an den Premier selbst wie an die Minister mit ihren festgenommenen Söhnen. Es sei noch zu früh, um die Lage zu beurteilen, meinte Finanzminister Mehmet Şimşek; doch wenn in seiner Umgebung eine solche „Situation“ eintrete, würde er den Rücktritt empfehlen...

Viele Kommentatoren und vor allem die regierungstreue Presse sehen die Polizeirazzia als Vergeltungsakt des Gülen-Netzwerks. Seit Wochen tobt ein recht offen geführter Kampf im Lager der Frommen wegen der Schließung der Nachhilfeschulen und der Bespitzelungsanweisungen der Regierung gegen mutmaßliche Anhänger der „Gemeinschaft“ von Fethullah Gülen in der Polizei und in anderen öffentlichen Ämtern. Die Polizeiaktionen erinnern an den Versuch der Exekutive Anfang 2012, die Führung des Geheimdienstes MIT – sie ist dem Regierungschef ergeben – wegen der verdeckten Verhandlungen mit der PKK zum Verhör zu zwingen. Polizeibeamte umstellten damals gar einen Sitz des Geheimdienstes in Istanbul.

„Cemaat“ (Gemeinschaft) – schon möglich, merkt Cüneyt Özdemir in seiner Kolumne in Radikal an. Aber das nähme nichts von der Ernsthaftigkeit der Vorwürfe, die die Staatsanwälte erheben. Erdogans Regierung hat jedenfalls schnell zurückgeschossen: Mittwoch wurden zunächst fünf Polizeichefs in Istanbul von ihren Posten entbunden. Reine Routine, lange schon geplant, hieß es. Später am Tag erwischte es noch sechs hohe Polizeibeamte beim Gouverneur von Istanbul. (Markus Bernath, derStandard.at, 18.12.2013)