Thomas de Padova: "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit". 23,70 € , 352 Seiten. Piper 2013

Cover: Piper

Als Gottfried Wilhelm Leibniz zur Welt kam, regelten noch keine Sekunden und Minuten das private wie öffentliche Leben. Am "21. Junii am Sontag 1646 Ist mein Sohn Gottfried Wilhelm, post sextam verspertinam 1/4 uff 7 Uhr abents zur welt gebohren, im Wassermann" (sic!) heißt es in der Leibniz'schen Familienchronik. Die Schläge der Kirchenturmuhren und die Schatten der Sonnenuhren strukturierten damals - nebst periodischen Ereignissen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter - die Zeit der Menschen.

Im Lauf der Lebenszeit des großen Philosophen und Mathematikers sollte sich dieser Umgang mit Zeit radikal verändern. Die ersten Pendeluhren, die der niederländische Mathematiker Christiaan Huygens baute, brachten einen Genauigkeitssprung in der Zeitmessung, den später nur die Atomuhr wiederholen sollte. Die Taschenuhren, die Huygens baute, machten die Zeit dazu noch tragbar.

Sachbuchautor Thomas de Padova erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte der damaligen Zähmung der Zeit samt ihren Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben, für die Naturwissenschaften und die Philosophie. Das Leben und die Errungenschaften von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton dienen de Padova als Eckpfeiler einer Entwicklung, die das damalige Weltbild grundlegend veränderte. Im Spannungsverhältnis ihrer Theorien fächert der Autor den barocken wissenschaftlichen Diskurs auf, der von der Gründung der britischen Gelehrtengesellschaft der Royal Society ebenso geprägt ist wie vom Siegeszug der Mechanik und der Entwicklung von Kalkülen der Differenzial- und Integralrechnung.

Auf der einen Seite steht Leibniz, der stets lesende Professorensohn aus Leipzig, der sich anhand einer illustrierten Livius-Ausgabe ohne Wörterbuch selbst Latein beibringt und zu einem der größten Universalgelehrten seiner Zeit heranwächst. Er wird Jurist und politischer Berater, er geht mit seiner Monadenlehre in den philosophiegeschichtlichen Kanon ein und plagte sich mit der Konstruktion von Windmühlen und automatischen Rechenmaschinen, für die er bereits das binäre System, das Computer heute verwenden, in Erwägung zog.

Auf der anderen Seite, jenseits des Ärmelkanals, ist der nur wenige Jahre ältere Newton in Gedanken ständig bei seinen Büchern. Als Kind hütet er Schafe und lernt die Zeichen der Natur zu deuten. Sonnenuhren begeistern ihn. Seine Begabung verhindert, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten muss. "Jedenfalls sieht auch die Mutter schließlich ein, dass aus einem Jungen, der tags wie nachts in den Himmel schaut, der Schattenstäbe in die Wände nagelt und nach Kometen späht, kein Schafzüchter werden kann", schreibt de Padova.

Newtons revolutionäre Gravitationstheorie ist aber nicht wie der Apfel vom Baum gefallen. Vorarbeiter und Stichwortgeber war etwa der Gelehrte Robert Hooke, dem Newton später jede Anerkennung verweigerte. Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung, einer Art, Differenzial- und Integralrechnungen zu lösen, beanspruchten sowohl Newton als auch Leibniz für sich, was zu einer der berühmtesten Prioritätenstreitigkeiten in der Geschichte der Mathematik führte.

Auch mit ihren Vorstellungen von Zeit markieren die beiden Gelehrten einen Gegensatz: Für Newton ist sie linear und liegt wie der Raum allen Dingen und Ereignissen zugrunde. Leibniz rückt die räumlichen und die zeitlichen Relationen zwischen Dingen und Ereignissen und einen subjektiven Zeitbegriff in den Vordergrund. Seine Lehren werden erst im 20. Jahrhundert mit Einsteins Relativitätstheorie wieder aus dem Schatten von Newtons Weltsicht heraustreten.

Das Herausstreichen solcher wissenschaftlichen Entwicklungen vor den Gegebenheiten ihrer Epoche, die Kontextualisierungen von Philosophie und Zeitgeist, von historischer und gegenwärtiger Naturwissenschaft sind die Stärke de Padovas. Trotz des unterhaltsamen Hin und Hers zwischen Orten, Epochen, Personen und Theorien, zwischen den verschiedenen Schauplätzen des wissenschaftlichen Denkens und Handelns gerät das Sachbuch keineswegs zur Plauderei, sondern bleibt kompakt und diszipliniert aufgebaut - gerade so wie ein Uhrwerk. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 18.12.2013)