Die Bedeutung des überraschend ­eindeutigen Votums der 475.000 Mitglieder der SPD zugunsten einer großen Koalition mit der CDU und CSU geht weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Obwohl am 22. September der deutschen Sozialdemokratie drei von vier Wählern die Stimme verweigert hatten, beteiligten sich 78 Prozent der Mitglieder an dieser beispiel­losen Aktion, und 76 Prozent votierten für die Zusammenarbeit der beiden Volksparteien in den nächsten vier Jahren.

Konsens statt Streit prägt nach wie vor also die Einstellung der großen Mehrheit der Deutschen. Die von dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel initiierte Parteibefragung vor dem Startschuss für eine neue Koalitionsregierung war zweifellos ein riskantes Manöver, das sich aber als Sieg für die demokratische Mitbestimmung im Rahmen des Parteienstaates erwies. Angela Merkel musste – trotz ihres fulminanten Wahlsieges – einen hohen Preis für die Schaffung einer Koalitionsregierung zahlen. Zugleich gilt in manchen Kreisen Sigmar Gabriel als der eigentliche Sieger der Verhandlungen.

Ein deutscher Journalist ging sogar so weit, bereits die Nachfolgefrage aufzuwerfen: "Zwei Fragen werden an der Kanzlerin kleben wie Kaugummi an der Schuhsohle: Wie lange noch? Wer dann?" Viel wichtiger ist allerdings für Europa, dass Angela Merkel auch in wichtigen Fragen – vom Mindestlohn über doppelte Staatsbürgerschaft bis zur Rente mit 63 – der SPD so viel zugestanden hat, um nur den Weg zu einer stabilen Regierung freizumachen.

Diese konsequent vertretene Verhandlungslinie zusammen mit der Tatsache, dass potenzielle Störfaktoren aus dem Europateil des 180 Seiten ­langen Koalitionspapiers stillschweigend ausgeklammert wurden, bestätigt wieder einmal die Option Merkels für Konsens und für die ­Manövrierfähigkeit Deutschlands am Vorabend möglicherweise umstrittener Entscheidungen in der nach wie vor anhaltenden Eurokrise.

In diesem Zusammenhang scheinen von der europäischen Warte betrachtet zwei Beschlüsse bei der Verteilung der Ressorts besonders wichtig zu sein. Wolfgang Schäuble (CDU) bleibt Finanzminister und Frank-Walter Steinmeier kehrt an die Spitze des Aus­wärtigen Amtes zurück. Für die internationale Finanzwelt ist Schäuble der Garant der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Die Übernahme des außenpolitischen Ressorts durch den international angesehenen Routinier Steinmeier von dem ohne politische Hausmacht hektisch agierenden Guido Westerwelle könnte auch in der deutschen Ostpolitik manche überfällige Akzentunterschiede bedeuten.

Die oft zitierte Feststellung Jacob Burckhardts – "nicht jede Zeit findet einen großen Mann und nicht jede große Fähigkeit findet ihre Zeit"  – gilt zum Glück nicht für die nach der Niederlage Hitler-Deutschlands entstandene demokratische Bundesrepublik. Es genügt, an die drei Kanzler der historischen Weichenstellungen zu denken: Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl. Ob sich die Pastorentochter aus Ostdeutschland nicht nur als Siegerin in der politischen Taktik, sondern auch als diesen Vorgängern ebenbürtige Weichenstellerin in der Europapolitik behaupten wird, muss noch dahingestellt bleiben. (DER STANDARD, 17.12.2013)