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Gilles Rousseau mit einem Foto seiner Tochter beim Begräbnis.

Foto: Seth Wenig/AP/dapd

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Im Februar empfing US-Präsident Barack Obama das Ehepaar Rousseau, um sie mit einer Verdienstmedaille auszuzeichnen.

Foto: AP Photo/Jacquelyn Martin

Washington - Er wolle sein Leben leben, so normal es eben gehe, sagt Gilles Rousseau, und kein Kreuzritter sein. Dabei ist er seit zwölf Monaten genau das, ein Crusader, wie Amerikaner einen Menschen nennen, der so beharrlich für eine Sache streitet, dass alles andere für ihn zur Nebensache wird. Seit dem 14. Dezember 2012, dem Tag, an dem er seine Tochter Lauren verlor, kämpft Gilles Rousseau für strengere Waffengesetze.

Einmal ist er nach New Hampshire gefahren, um eine Senatorin zur Rede zu stellen, die gegen härtere Regeln gestimmt hatte. Als die Republikanerin Kelly Ayotte bei einem Forum mit Wählern diskutierte, saß er in der ersten Reihe, auf dem Schoß Laurens Sterbeurkunde. Der Versuch, der Politikerin unter vier Augen eine Frage zu stellen, endete damit, dass er weggedrängt wurde von ihren Leibwächtern. Ein anderes Mal flog er in den Wüstenstaat Nevada, dessen Parlament alle lokalen Waffenhändler verpflichtete, die Daten ihrer Kunden mit einer zentralen Computerkartei abzugleichen, bevor sie ein Gewehr oder einen Revolver über die Ladentheke schieben. 

Ein kleiner Sieg

Nevada war ein kleiner Sieg, verglichen mit der bitteren Niederlage in Washington. In der Hauptstadt  weigerte sich der Kongress, die Bundesgesetze so zu verschärfen, dass Waffenkäufer landesweit auf Vorstrafen oder mentale Erkrankungen überprüft werden müssen. "Sie brauchen Geduld, Washington ist der letzte Ort, an dem sich etwas ändert", bekam Gilles Rousseau nach der Schlappe im April von Barack Obama zu hören, dem Präsidenten, der genauso enttäuscht war wie er. "Egal, ich mache weiter, wir versuchen es immer wieder", sagt der gebürtige Kanadier, der 1965 aus der Provinz Quebec in die USA übersiedelte. "Wenigstens das bin ich meiner Tochter schuldig."

Lauren Rousseau, 30 Jahre alt, als sie starb, war Vertretungslehrerin an der Sandy Hook Elementary School. Um finanziell über die Runden zu kommen, arbeitete sie nebenbei in einem Starbucks-Café, und nach Jahren des Improvisierens hatte sie endlich eine voll bezahlte Lehrerstelle in Aussicht. Am 14. Dezember war sie eingesprungen, weil eine schwangere Kollegin zum Arzt musste. Morgens gegen halb zehn marschierte Adam Lanza, der psychisch kranke Amokläufer, in das Gebäude. Lauren, las Gilles Rousseau später in einem Polizeibericht, habe versucht, ihre Kinder in einer Ecke des Klassenzimmers zu sammeln, und sich schützend vor sie gestellt. "Ich bin stolz auf sie, sie ist nicht weggerannt."

Parkverbot für Übertragungswagen

Die Bürgermeisterin von Newtown bittet die Medien darum, dass man die Stadt in Ruhe lässt an diesem Jahrestag. Kein Übertragungswagen eines Fernsehsenders soll irgendwo parken dürfen. Der Sandy-Hook-Flachbau, in dem Lanza 20 Erstklässler und sechs Pädagogen erschoss, ist abgerissen, damit er nicht zu einem Wallfahrtsort des Mitleidstourismus werden kann oder gar zu einem Schrein der Waffennarren.

In den Kirchen der kleinen, idyllisch zwischen bewaldeten Hügeln gelegenen Stadt finden zwar Trauerfeiern statt, aber keine, zu der Fremde Zutritt hätten. Gilles Rousseau ist nach Washington gereist, zum öffentlichen Gedenkgottesdienst, wo er unter neugotischen Säulen im Prachtbau der National Cathedral steht und nach der Zeremonie mit bewundernswerter Geduld Interviews gibt. Zuvor hatte Gary Hall, der Dekan der Kathedrale, erschütternde Zahlen genannt: Allein seit Newtown seien mehr als 32 000 Amerikaner durch Schüsse ums Leben gekommen, darunter 194 Kinder. Gilles Rousseau spricht dagegen tapfer vom Silberstreif, den er hier und da sehe.

Im Bundesstaat Connecticut, in dem Newtown liegt, muss nunmehr jeder Waffenaspirant einen Datencheck durchlaufen, auch dann, wenn er bei Privatleuten kauft. Ein Vertriebsverbot von Sturmgewehren wurde auf über hundert Modelle ausgeweitet, niemand darf mehr Magazine mit mehr als zehn Patronen besitzen. Andererseits hat North Carolina die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und erlaubt es seinen Bürgern, auch dann Pistolen bei sich zu tragen, wenn sie eine Bar oder ein College betreten, frühere Tabuzonen. In Montana dürfen Psychologen ihre Patienten nicht mehr fragen, ob sie daheim eine Flinte im Schrank haben. Fast jeder US-Staat, dokumentierte die "New York Times" neulich in einer Statistik, hat nach Newtown neue Waffengesetze beschlossen, manchmal gleich mehrere, insgesamt 109 Novellen. In 70 Fällen wurden die Regeln gelockert. (Frank Herrmann aus Washington, derStandard.at, 13.12.2013)