Der renommierte österreichische Dokumentarist Michael Glawogger (Megacities, Workingman's Death und Whores' Glory) ist für sein nächstes Filmprojekt ohne vorgefertigtes Konzept zu einer rund einjährigen Reise aufgebrochen. derStandard.at bringt exklusiv Tagebücher in Form von kleineren Geschichten, die von diesem filmischen Experiment erzählen.

Foto: Liz Pompe
Foto: Michael Glawogger

Seit ca. hundert Kilometern hatten die Gebäude keinen Verputz mehr – und zwar egal, welche Gebäude. Meist waren es Einfamilienhäuser, von denen man hätte denken können, dass in Kürze damit begonnen würde, die Fassaden fertigzumachen. Aber es waren eben nicht nur Einfamilienhäuser, sondern auch Gaststätten, Bars, Bauernhöfe, Ställe, Brunnen und mancherorts sogar Kirchen.

Die Einfamilienhäuser schienen bewohnt zu sein. Abends waren die Fenster beleuchtet, und man konnte durch die Vorhänge Menschen beobachten, die ihrem ganz normalen Leben nachgingen. Sie sahen fern, deckten Tische, wuschen Geschirr oder arbeiteten an ihren Computern. Auch die Gärten sahen nicht aus, als wären sie Baustellen. Das waren intakte Gärten, in denen große Kohlköpfe wuchsen, Hühner sich tummelten und Kettenhunde kläffend an ihren Ketten rissen. Einer der Hunde (in Medari) hatte eine gemauerte Hundehütte. Auch sie war nicht verputzt.

In Španovica und Dragovic gab es kein einziges verputztes Bauwerk, außer einigen ganz alten Bauernhäusern. Diese waren verfallen und von Einschusslöchern übersät, manche Dächer waren überhaupt weggeschossen. Erst in der nächsten großen Stadt standen dann auch neue und fertige Häuser, die zitronengelb, lila oder hellblau gestrichen waren. Ruinen, Rohbauten und diese fertigen standen hier nebeneinander, schrieben Geschichte und erzählten Geschichten – einfach dadurch, dass sie scheinbar friedlich nebeneinanderstanden und doch vom Krieg erzählten. Einem Krieg, der über Generationen ging, immer aus anderen Gründen geführt wurde und die letzten achtzig Jahre allgegenwärtig war. Großväter, Väter und Söhne könnten über ihn erzählen, schweigen aber meist. Die Häuser fassen ihn bildlich in Worte.

Unfertige Häuser

Die Ermordeten brauchten keine Häuser mehr, die Vertriebenen bauten ihre zerstörten nie wieder auf, sondern anderswo neue, die sie dann nie mit Verputz versahen. In die Orte, in die sie nie zurückkehrten, kamen von anderswo Menschen, die ihrerseits bauten, aber nicht verputzten. Darüber, warum sie das nicht taten, gibt es viele Theorien; die meisten Gründe waren wohl ökonomische oder bürokratische. Zum Beispiel, dass man für alles eine Förderung zum Wiederaufbau bekommt, nur nicht für den Verputz. Zum Beispiel, dass es immer Wichtigeres gibt: dichte Fenster, eine Küche, einen Fernseher, einen Computer mit WiFi oder ein Schwein. Der Verputz wird immer verschoben, und außerdem zahlt man angeblich für ein verputztes Haus auch höhere Steuern, da es dann ja fertig ist.

Von der Monarchie bis zur Zeit Titos wäre es wohl undenkbar gewesen, sein Haus auf diese Art unfertig zu lassen. Der Verputz war entscheidend, denn der Kaiser oder später Tito hätte ja durch den Ort fahren können, und wie wäre man dann dagestanden mit einem unverputzten Haus? Schon ein scheeler Blick der Nachbarn hätte gereicht, um das Haus zuerst einmal außen fertigzumachen.

Eine Bäuerin in Dapčevićki Brđani wiegte nachdenklich den Kopf und meinte, dass es wahrscheinlich an der Europäischen Union liegen würde. Sie könne sich eigentlich keinen anderen plausiblen Grund vorstellen. Kroatien war zu diesem Zeitpunkt noch keine sechs Monate Mitglied der EU.

Egal, heute verputzen nur die Angeber, die Neureichen, die politischen Günstlinge, die Tycoons und zu Geld gekommene Gastarbeiter ihre Häuser. Leute, die zeigen wollen, dass sie etwas Besseres sind – und das in leuchtenden Farben. Sie bauen auch doppelt so groß, mit doppelt so vielen Fenstern und dreimal so vielen Garagen. Ihre Autos lassen sie dann aber vor den Garagen stehen – denn welchen Sinn hätte ein schönes Auto, wenn es niemand sieht?

Als er in Nova Gradiška ankam, erwartete er ein unverputztes Hotel. Das hätte er irgendwie angemessen gefunden. Aber so weit ging das "Nichtverputzen" dann doch nicht. Ein Hotel musste wohl immer einladend sein, musste immer mit einer schönen Fassade prunken oder eine hässliche hinter großen Neonbuchstaben verstecken. Hotels, vor allem solche, die an einer Ausfallstraße oder neben einer Tankstelle um Reisende buhlen, sind das Gegenteil von anderen Häusern. Sie müssen schnell und direkt wirken, und das macht die Fassade. Steht man erst einmal müde in einer gut geheizten Rezeption, ist der Rest egal. Ein Bett wird es schon geben, sicher auch eine Dusche und einen Fernseher, zu dessen gleichförmiger Bild- und Tonberieselung man einschlafen können wird.

Farbige Symphonien

Sein Zimmer hatte kleine Betten mit blauen Holzrahmen. Die Wand war passend dazu blau gestrichen, und die Stühle sahen aus wie Elefantenfußhocker, die ihm seit den siebziger Jahren nicht mehr untergekommen waren – nur waren diese hier nicht aus Elefanten, sondern aus einem Stoff, mit dem jemand sehr reich geworden sein musste, so oft hatte er ihn schon gesehen. Die Kacheln im Bad waren dunkelblau. Ein Dunkelblau, das so dunkel war, dass es fast ins Schwarz kippte. Er dachte selten über die Farbigkeit eines Hotelzimmers nach, aber irgendwie ließ das unerwartet blaue Ensemble vor dem Einschlafen eine bunte Zukunft vor seinem inneren Auge entstehen. Er sah sich ziellos durch ein Ex-Ex-Jugoslawien fahren. Er hatte wieder einmal vergessen, wo welche Grenze verlief, und warum eine plötzlich nicht mehr da und eine andere dazugekommen war. Jedenfalls waren die Dörfer farbige Symphonien. Es gab keine verfallenen Häuser mehr, keine zerbombten Kirchen und keine Rohbauten. Alles war helles Rosa, leuchtendes Ocker, Aquamarinblau, Schönbrunngelb oder Metallicgrün. Die Plattenbauten in den Vorstädten waren mit bunten Blumen verziert, und öffentliche Gebäude hatten je nach ihrer Funktion eine andere Signalfarbe. Die Menschen fuhren Autos, die die Farbe ihrer Häuser hatten. Polizeiautos glänzten im Glitter ihrer freundlich wirkenden Stationen. Die Regierung blieb als einzige bei schwarzen Mercedes und regierte in schwarzen Wolkenkratzern. Das Militär hatte silberne Jeeps und goldene Panzer. Das war zwar unpraktisch, weil es nicht gerade der Tarnung diente. Es zeigte aber, dass hier nicht Aggressoren, sondern Heilsbringer kamen. Ihr Auftreten war auch immer von Musik begleitet.

So lebten alle in friedlicher Buntheit, bis eines Tages der Sohn eines Tycoons in Pakrac aus seinem gelben Ferrari mit einer gelben Glock auf seinen Nachbarn schoss, der einen roten Chrysler Viper fuhr. In wenigen Wochen stand das Land in Flammen. Rote und gelbe Häuser wurden nach dem Krieg verboten, und es dämmerte das Zeitalter des Pastells herauf. Eindeutige Knallfarben waren verpönt, und als sich das Land langsam erholte, blieben nur einige Einkaufszentren als Mahnmale längst vergangener Tage über. Sie alle gehörten zu einer Kette, die "Budućnost" – "Zukunft" – hieß, und sie blieben in jeder Stadt einfach stehen, bunt, zerschossen, vermint und verriegelt für alle Zeiten. (Michael Glawogger, derStandard.at, 12.12.2013)