Foto: Balázs Csekő

daStandard.at: Sie wurden 2010 ziemlich jung, mit 36 Jahren, zum Vorsitzenden der MSZP gewählt. Hatten Sie nicht das Gefühl, als wären Sie ins kalte Wasser geworfen worden?

Mesterházy: Ich habe bewusst in einer von vornherein verlorenen Schlacht die Rolle des Vormannes übernommen, weil ich mir zum Ziel gesetzt hatte, die Partei aufzuräumen und umzubauen. Mit der Annahme der Premier-Kandidatur wollte ich damals beweisen, dass ich Herausforderungen nicht fürchte, und wenn ich mit Anstand die Arbeit erledige, dann bekomme ich das Vertrauen von den Parteimitgliedern, den Wiederaufbau der Partei zu leiten.

daStandard.at: Die Popularität Ihrer Partei hat sich seit der Niederlage von 2010 nicht wesentlich verbessert. Bei den Jugendlichen zum Beispiel liegt laut mehreren Umfragen das MSZP-Lager bei zehn Prozent. Wie würden Sie Ihre Leistung als Parteichef bewerten?

Mesterházy: Präzisieren wir. Die MSZP bekam 19 Prozent aller Stimmen bei der vorangegangenen Parlamentswahl, aktuell liegt sie bei 28 bis 29 Prozent. 2010 sagten die Analytiker, dass die MSZP, ähnlich wie die MDF und die SZDSZ, durch eine Falltür der Geschichte versenkt wird und sich die politische Landkarte komplett verwandelt. Deswegen versahen mich am Anfang viele nicht mit dem Label des Parteichefs, sondern mit dem des Pleiteverwalters. Wir sind heute die größte und stärkste Oppositionspartei. Bezüglich der Popularität rechnen wir damit, dass sie im Laufe des Wahlkampfs deutlich steigt.

daStandard.at: Senkung der Wohnnebenkosten, niedrige Inflation, sinkende Arbeitslosigkeit, Gehaltserhöhung für Pädagogen. "Ungarn leistet mehr", ist seitens der Regierung zu hören. Leistet Ungarn tatsächlich mehr mit der Orbán-Regierung?

Mesterházy: Nein, und meiner Meinung nach ist dieser Slogan verfehlt. Millionen von Menschen fühlen nicht, dass Ungarn mehr leistet, vielmehr wird ihnen, obwohl sie selber viel leisten, durch die irrationale Wirtschafts- und unmenschliche Gesellschaftspolitik das Leben von Tag zu Tag schwerer gemacht. Die Senkung der Wohnnebenkosten ist in Wirklichkeit eine "Wohnnebenkostentäuschung". Wenn eine Familie zusammenrechnet, um wie viel ihre Lebenshaltungskosten in den letzten drei Jahren gewachsen sind, dann stellt sich heraus, dass sie noch immer weit mehr ausgibt als vor drei Jahren.

Bei der Gehaltserhöhung für Pädagogen sieht man, dass viele weniger verdienen und wesentlich mehr arbeiten als vor der Gehaltserhöhung. Bei den Beschäftigungszahlen betrügt die Regierung ebenso. Die ausländischen Arbeitsplätze werden miteinberechnet, die Zahl der staatlichen Pflichtarbeiter wird in einem gewaltigen Maß aufgebläht, statistisch werden die Beschäftigungszahlen verbessert, nicht aber die Situation der Menschen. Wenn wir hinter die Propaganda und die statistischen Daten sehen, dann zeigt die Realität ein anderes Bild: Orbán bastelt an einem Potemkin-Land.

daStandard.at: Wie würden Sie wirtschaftlich und politisch korrigieren, wenn Sie wieder an die Macht kämen?

Mesterházy: Es gibt drei Krisenbereiche in Ungarn: Wir haben eine soziale, wirtschaftliche und demokratische Krise. Für die Beseitigung der dritten Krise braucht man die Unterstützung einer Zweidrittelmehrheit. Darüber herrscht der größte Konsens zwischen Experten, Politikern und unabhängigen Zivilorganisationen. Die "Roadmap" haben wir: Wir wissen, was wir mit der Verfassung, dem Ombudsmann, dem Mediengesetz und der Unabhängigkeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft machen sollten. Ein anderer Bereich ist die unorthodoxe Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie ist gänzlich gescheitert. Die wichtigste Frage ist, wie man das Vertrauen, die Berechenbarkeit und die Rechtssicherheit herstellen kann. Die Sozialpolitik betreffend sehen wir, dass die Reichen besser leben, die mit niedrigerem Lohn schlechter. Wir versprechen eine gerechte Sozialpolitik, die, gepaart mit einer berechenbaren, verantwortungsvollen Wirtschaftspolitik, das Land auf einen nachhaltigen Entwicklungskurs bringt und für die Menschen ein sichereres und dauerhafteres Wachstum bringt.

daStandard.at: Zeitgleich mit dem 75. Jahrestag der Novemberpogrome wurden in Ungarn Horthy-Statuen eingeweiht, Bücher verbrannt, der Schriftsteller Ákos Kertész beantragte und erhielt Asyl in Kanada. Was passiert da in Ungarn, und was tut die MSZP dagegen?

Mesterházy: Es ist kein Zufall, dass sich Ungarn der Vergangenheit zuwendet. Es findet ein Kulturkampf gegen bestimmte Künstler, Philosophen und Vertreter gewisser Disziplinen statt. Dahinter steckt System. In dieses Bild passt die Horthy-Restauration hinein. Es ist erstaunlich, wie die heutige Regierung aus der Hauptfigur, die für die Tötung hunderttausender ungarischer Juden verantwortlich ist, einen Helden machen möchte. Wir grenzen uns immer sehr entschieden von solchen Ideologien ab, wir haben keine Gemeinsamkeit mit ihnen. Ich trete immer persönlich auf, wenn sich irgendwo Anzeichen des Antisemitismus oder der radikalen, ausgrenzenden Ideologien zeigen. Das ist keine Parteipolitik, sondern die Frage der Wertewahl und des Humanismus. Es gibt kein Feilschen, keine Zusammenarbeit, kein Augenzwinkern in irgendeiner Form mit den Extremen.

daStandard.at: Das neue Motto Ihrer Partei lautet: "Chance zur Veränderung, Hoffnung für alle". Warum sollten alle ihre Hoffnung auf Ihre Partei setzen?

Mesterházy: Wir bieten Hoffnung für all jene, die für die anderen politischen Parteien nicht zählen. Nur wir sprechen heute in Ungarn aus, dass jedes Mitglied der Gesellschaft gleich viel zählt. Die Fidesz hat auf die unter widrigsten Umständen Lebenden verzichtet – sie deklarierte sogar, dass sie links liegen gelassen werden sollen. Sie sind die Regierung der Reichen. Andere denken, wenn es der Wirtschaft und den vorn Marschierenden besser geht, ziehen sie mit der Zeit auch den Rest nach. Wir sind die Einzigen, die sagen: Ohne gesellschaftliche Gerechtigkeit, Solidarität und Chancen zu schaffen, gibt es keinen Aufstieg. Wir brauchen eine solche Gesellschaftspolitik und eine dieser dienende verantwortungsvolle und ethische Wirtschaftspolitik.

daStandard.at: Seit der Wende war die MSZP in drei Legislaturperioden an der Macht, unter anderem in den acht der jetzigen Orbán-Regierung vorangehenden Jahren. Inwieweit glauben Sie, dass Ihre Partei für die Entstehung der derzeitigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage Verantwortung trägt?

Mesterházy: Es gab enorme Illusionen in der ungarischen Gesellschaft. Die erste große Illusion waren die großen Erwartungen nach der Wende. Viele dachten, dass die Marktwirtschaft und die Demokratie sofort den Wohlstand mit sich bringen. Die gleiche Illusion wiederholte sich zum Zeitpunkt unseres EU-Beitritts. Viele glaubten, dass das, was bei der Wende nicht stattgefunden hatte, mit dem EU-Beitritt geschehen wird. Zahlreiche derartige Illusionen haben sich aufgelöst. Viele soziale Probleme, die wir seit der Wende mit uns herumschleppen, konnten nicht gelöst werden. Manchmal fehlte der politische Wille, manchmal die parlamentarische Unterstützung, manchmal gab es keine gute Lösung. 2010 bewerteten viele die Zweidrittelmehrheit der Fidesz aus diesem Grund positiv, weil sie mit der Illusion verbunden war, dass sie mit der auf diese Weise erhaltenen Macht im Interesse des Landes handeln wird und sie nicht für ihre eigenen Interessen missbraucht. Ja, die sozialistischen Regierungen tragen Verantwortung dafür, wobei ihre Rolle beim sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt des Landes, der euroatlantischen Integration, dem Ausbau der Marktwirtschaft und der Demokratie unbestreitbar ist. Ich bin überzeugt, dass wir auf mehr Dinge stolz sein können als nicht, wir sollen aber auch unsere Fehler anerkennen.

daStandard.at: Wegen Verletzungen der Wahlkampfruhe muss nach Baja in Fót die Nachwahl des Bürgermeisters wiederholt werden. Sehen Sie die Sauberkeit der Parlamentswahl in 2014 in Gefahr?

Mesterházy: Solange geheime Wahlen in Ungarn stattfinden und nicht ein Fidesz-Aktivist die Wähler in die Wahlzelle begleitet, kann man diese Regierung abwählen. Es ist aber wahr, dass diese Regierung alles tut, der Opposition möglichst viele Hürden aufs Feld zu stellen. Premier Orbán sagte früher im Parlament, dass alle Teilregulierungen ein Jahr vor den Wahlen fertig sein sollen. Ein paar Monate vor den Wahlen wissen wir noch nicht, unter welchen Umständen genau wir die Kampagne führen werden müssen.

daStandard.at: Sind Sie darauf vorbereitet, dass die Wahlregeln noch verändert werden können?

Mesterházy: Absolut. Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass die Regierung bis zur juristisch möglichen allerletzten Sekunde irgendein Gesetz ändert. Gerade werden Veränderungen bei der Kampagnenfinanzierung durchgeführt. Ähnliche Züge werden sie noch weitere machen. Eines ist fix: Es wird Chaos geben. Sicher ist auch, dass das Wahlergebnis von den unentschlossenen Wählern entschieden wird. Der Wirkungsgrad der Möglichkeit einer Manipulation hängt davon ab, wie viele wählen gehen. Je höher die Wahlbeteiligung ist, desto geringer ist der Sinn eines Betrugs. Deswegen ermutigen wird jeden, wählen zu gehen.

daStandard.at: Aufgrund des neuen Wahlsystems kann die Opposition Fidesz bei der kommenden Parlamentswahl nur durch ein Zusammenrücken besiegen. Kürzlich erklärten Sie in einem Interview der "Népszabadság", dass "der gesamte oppositionelle Zusammenschluss eine Utopie" sei. Auf welche Parteien erstreckt sich die reale Zusammenarbeit?

Mesterházy: Was das mögliche Ausmaß des Zusammenschlusses angeht: Die oppositionelle LMP hat festgelegt, dass sie separat kandidiert. Schon allein das schließt den gemeinsamen oppositionellen Zusammenschluss aus. Einer der größten Tricks von Fidesz ist, dass jeder in einem Einzelwahlkreis mit 500 Unterschriften kandidieren kann. Wenn jemand in allen 106 Einzelwahlkreisen einen Kandidaten nominiert, bekommt er eine Unterstützung von einer halben Milliarde Forint (1.660.000 Euro; Anm.) dazu. Lassen wir uns nicht täuschen: So wie Fidesz diese Möglichkeit gesichert hat, wird sie auch für ihren Start sorgen. Deshalb sollen wir mit allen unseren Kräften dafür arbeiten, dass wir die unentschlossenen Wähler ansprechen. Wir müssen sie davon überzeugen, dass sie wählen gehen, denn wenn sie zu Hause bleiben, stimmen sie auch ungewollt für Viktor Orbán.

daStandard.at: Wenn der gemeinsame Nenner der oppositionellen Kräfte wirklich die Ablösung Viktor Orbáns und seiner Partei ist, worauf warten Sie? Heiligt der Zweck die Mittel doch nicht?

Mesterházy: Die Frage ist in den Köpfen aller die gleiche: Wie können wir gewinnen? Dafür gibt es verschiedene Strategien. Meiner Meinung nach ist der Sieg dann möglich, wenn wir die Einzelwahlkreise gewinnen, wofür wir aber die Unterstützung der aktiven unentschlossenen Wähler brauchen. Wir können sie für uns nur dann gewinnen, wenn wir uns nicht mit unseren eigenen, sondern mit ihren Alltagsproblemen beschäftigen. Für mich ist das die einzige relevante Strategie. Und vergessen wir auch nicht, dass die Wahlen früher als gedacht, am 6. April, stattfinden.

daStandard.at: Mit welchem Ergebnis rechnen Sie für die MSZP im kommenden Frühling?

Mesterházy: Wir werden die Wahl gewinnen.

daStandard.at: Prozentmäßig?

Mesterházy: Das ist schwer zu sagen, aber ich schließe auch einen Sieg mit Zweidrittelmehrheit überhaupt nicht aus.

daStandard.at: Falls sich Ihre Erwartungen als übertrieben erweisen, welche Konsequenzen wird das für Sie und Ihre Partei haben?

Mesterházy: Meine Erwartungen sind nicht übertrieben. (Balázs Csekő, daStandard.at, 10.12.2013)