"Land der Berge" heißt es in der Bundeshymne pathetisch-tragend. Und irgendwann hat jeder von uns in der Schule gelernt, dass in Österreich rund 700 Gipfel herumstehen, die mehr als 3.000 Meter über den Meeresspiegel ragen. Lehrer, die es genau wissen wollten, bestanden auf 695. Das ist die Zahl, die der Alpenverein kommuniziert. Und dort ist man, was Gipfelzählen und -messen anbelangt, ziemlich genau.

Auch den höchsten Berg des Landes kann fast jeder benennen: Den Großglockner. Bei der Höhe hapert es dann aber mitunter schon (3.798 Meter).

Bei Nummer zwei & drei scheiden die meisten Landsleute aus. Oder brechen Streit vom Zaun: Offiziell sind das Wildspitze (3.768) und Weisskugel (3.738). Aber da, spotten manche, hat man die Tiroler milde stimmen wollen - und den Kleinglockner (3.770) ausgeklammert: Der liegt nämlich mit nur 17 Metern Abstand zum Großglockner so knapp neben dem großen Bruder, dass er nicht als eigener Gipfel durchgeht. Obwohl der kleine Hopser über den Glocknergrat und die Palavicinirinne manchen Alpintouristen mehr zu schaffen macht, als der gesamte übrige Auf- und Abstieg.

Das ist doch egal. Sagt der Wiener. Ist es nicht, sagt der Tiroler im Allgemeinen. Und der Ötztaler im Besonderen. Denn von Österreichs 695 (mit Kleinglockner: 696) "Mehr-als-Dreitausendern" liegen (besser: ragen) 573 in Tirol. Und mit exakt 226 Dreitausend-Plus-Gipfeln liegt das Ötztal hier für die nächsten paar Millionen Jahre in Führung. Dass der blöde Glockner kein Ötztaler ist, macht da nur ein Umstand erträglich: Wildspitze und Weisskugel sind Teil der Ötztaler Alpen.

Um die Dreitausenderhausmacht zu demonstrieren, luden die Ötztaltouristiker kurz vor der Eröffnung des auf 3.048 errichteten (beinahe) Haubenlokals "IceQ" am Gaislachkogl zu einem kleinen Hubschrauberrundflug. "Land der Berge" klang danach ein bisserl anders.

Wir hatten sie gewarnt. Aber als ihr der Wind des Rotors beim Landeanflug des Helikopters die Mütze vom Kopf blies, war die Dame aus Deutschland, "sowas von überrascht" - und wollte gehen: "Der ist schon sehr klein. Seid ihr sicher, dass das nicht gefährlich ist?"

Foto: Thomas Rottenberg

Dann flog sie - natürlich - trotzdem mit: Wie oft kommt man denn schon dazu, sich die Welt von oben anzusehen. Noch dazu bei Kaiserwetter. Und umsonst. Gleich nach dem Start drehte der Pilot die Nase seines Hubschraubers in einer (extra) sanften Rechtskurve nach Süden. "Das ist das Venter-Tal. Wenn ihr zur Wildspitze wollt, müsst ihr da lang." Die Kollegin, die jedes Klischee herrlich erfüllte, fragte - weiß ums nordische Näslein: "Was ist die Wildspitze?"

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Doch um den Blick auf die 3000er zu genießen, muss man erst einmal über die Gipfel hinauskommen: der Startplatz in Sölden liegt auf rund 1400 Metern. Der Weg ins Freie führt zunächst über das vom Menschen touristisch "urbar" gemachte Söldener Skigebiet: Den Retten- und den Tiefenbachgletscher.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch auch dort, wo das Eis, das einst als "ewig" galt, das Fundament der florierenden Wintersportregion bildet, geht ohne Kunstschnee heute nichts. Schnee ist Wasser. Wenn das nicht vom Himmel fällt, muss man es bunkern, um es bei Bedarf durch Lanzen und Kanonen zu jagen. Die Speicherseen liegen - logisch - meist nahe an den Pisten. Aber doch so, dass man beim Vorbeicarven tunlichst nicht mitbekommt, dass es sie gibt: Der Tourist bucht die Illusion, sich im natürlichen Umfeld zu bewegen.

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Verdenken kann man es ihm nicht. Doch zum Glück rafft sich kaum ein Tourist, der mit dem Schleppliften am Tiefenbachgletscher dem Mutkogel entgegen fährt, dazu auf, die letzten Höhenmeter auf den 3312-Meter-Gipfel selbst in Angriff zu nehmen. Zum Glück? Ja. Denn auch wenn der Schnee hüben wie drüben gleich weiß ist: Unmittelbar neben - also auch oberhalb - der markierten Pisten gelten ganz andere Spielregeln als im gesicherten Skiraum.

Foto: Thomas Rottenberg

Beim Anflug auf den Mutkogel war sie nur klein links hinter dem Ski-Berg auszumachen. Aber beim Näherkommen wird die Wildspitze dann von Rotorumdrehung zu Rotorumdrehung imposanter. Land der Berge eben. Das lange, schier endlose Schneefeld, ist mehr als Respekt gebietend. Dabei ist es im Winter vielleicht sogar eine Spur ungefährlicher als im Sommer: Ich bin hier einmal im Sommer - beim Abstieg von der Wildspitze - mit einer langsamen Seilschaft drüber gegangen. Wir waren spät dran - und je höher die Sonne, desto weicher und brüchiger der Schnee, der Gletscherspalten bedeckt.

Foto: Thomas Rottenberg

Unten, zu Fuß und angeseilt, wäre ich hier hoch konzentriert: Seil gespannt? Pickelschlaufe um die Hand? Steigeisen ordentlich am Schuh? Sitzt der Gurt? Jedes Knacken klingt plötzlich laut. Aber jetzt, hier oben, höre ich nur den Rotor und den Motor. Und die Frage der Kollegin: "Warum ist hier keine Piste?"

Foto: Thomas Rottenberg

Der Pilot zieht die Maschine höher. Der Blick nach Südwesten haut mich im Sitzen um. Ich hatte dieses Gefühl hier schon einmal: Als wir auf der Wildspitze standen. So "Wow", dass man heulen könnte. Der Pilot gibt den Reiseführer: "Da vorn sind die Dolomiten - und hinter uns könnten wir bis zur Zugspitze sehen."

Foto: Thomas Rottenberg

Wir drehen ab. Richtung Nordwesten. Aus dieser Höhe wirken Gletscher und Landschaft unverletzt. Unverletzbar: So viel Landschaft - was kann der Mensch da mit den paar von ihm genutzten Prozent schon an nachhaltigem Schaden anrichten?

Foto: Thomas Rottenberg

Mehr als 220 Berge, die höher als 3000 Meter sind, liegen in den Ötztaler Alpen. Und ich habe das Gefühl, hier alle zu sehen. Gleichzeitig.

Foto: Thomas Rottenberg

Gleich nebenan - in den Pitztaler, Stubaitaler und Zillertaler Alpen kommen noch ein paar hundert dazu. Auf etliche davon kommen das ganze Jahr über gerade mal ein paar hundert Bergsteiger.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf manche noch weniger. Ist es da nicht vertret- und verkraftbar, wenn in Sölden für die Pistenklientel die als "Big 3" beworbenen  Aussichtspunkte (Gaislachkogl, 3058 Meter; Tiefenbachkogl, 3309 Meter; Innere Schwarze Schneid, 3370 Meter) für alle erreichbar gemacht werden?

Foto: Thomas Rottenberg

Die 33 Lifte Söldens schaufeln in der Hochsaison über 67.000 Personen nach oben. Pro Stunde. Freilich: Zu den "Big 3" führt nur eine Handvoll von ihnen. An der grundsätzlichen Frage ändert das nichts. Drei überlaufene Dreitausender und zwei volle Gletscher - gegen hunderte einsame Gipfel. Außerdem, führen die Liftbetreiber ins Treffen, erwirtschafte die Tiroler Skiwirtschaft gut 40 Prozent der heimischen Wintertourismuswertschöpfung. Ohne sie wären die Menschen arm. Die Täler würden veröden.

Foto: Thomas Rottenberg

"Betrachtet es als Privileg, sehen zu dürfen, was ihr jetzt seht. Ihr könnt euren Kindern oder Enkeln einmal erzählen, dass ihr den Gletscher noch mit eigenen Augen gesehen habt", sagt der Pilot, während er eine Kurve über den Rettenbachgletscher zieht. "Ich fliege hier seit Jahren drüber. Und ich sehe dabei zu, wie sich der Gletscher von Jahr zu Jahr immer weiter zurückzieht. Das geht schnell." Vermutlich ist das, was da beim letzten Wort in den Kopfhörern knackt, nicht das Schlucken des Piloten - sondern nur die Elektronik.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Klimawandel macht auch der Seilbahnwirtschaft zu schaffen. Weil der Gaislachkogel eigentlich aus fünf Felsen besteht und die sich - nicht zuletzt "dank" der Veränderungen des Wetters und durch den Permafrost - bewegen, wurde die Bergstation hier 2010 auf bewegliche Sockel gesetzt. 27 hydraulische Fundamente erlauben es, die unter einer ultradünnen, aber für extreme Windstärken ausgelegten Membran verborgene Seilbahnmechanik um bis zu 80 Zentimeter zu verschieben. Und auch das daneben liegende IceQ-Restaurant (siehe Artikel) steht auf beweglichen Fundamenten.

Foto: Thomas Rottenberg

Schließlich sollen die Gäste hier oben nur eines tun: Genießen. Die Landschaft. Den Blick. Das Panorama

Foto: Thomas Rottenberg

Den Aufwand, die Kosten und die Technik, die notwendig sind, um die Umgebung im Wechselspiel von Sonne und Wolken gleichzeitig superspektakulär-alpin-authentisch und doch aus der gesicherten Komfortzone des All-Inc-Gastes erlebbar zu machen, soll tunlichst niemand bemerken.

Foto: Thomas Rottenberg

Und beim Blick zurück auf den Gaislachkogl, durch die Plexiglaskuppel des Hubschraubers, stellt die Kollegin aus Deutschland dann die Frage nach den Grenzen: "Wie viele solche Flüge finden denn hier eigentlich täglich statt? Das wäre doch eine tolle Sache! Man sollte die Gäste gleich mit Skiern rauf fliegen. In Kanada geht das doch auch."

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Dass Österreichs Täler enger sind, als die kanadische Wildnis oder die Weiten des Kaukasus, meint die Kollegin, sei "kein Argument: Das Geld ist da. Und die, die es ausgeben, wollen das, was sie anderswo ganz selbstverständlich bekommen eben auch hier: Ihr habt doch ohnehin über 500 hohe Gipfel."

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Keiner sagt etwas: Ich will lieber die Bilder im Kopf weiter genießen, als eine elende und fruchtlose Diskussion zu führen. Den Anderen in der Maschine dürfte es ähnlich gehen ...

Foto: Thomas Rottenberg

 ... und der Pilot konzentriert sich so auf den Landeanflug, als müsste er im Sturm zwischen Hochspannungsleitungen eine Seilbergung durchführen.

Foto: Thomas Rottenberg

Beim Aussteigen fällt mir ein: Ich habe weder das Gesicht des Mannes, der uns da gerade spazieren geflogen hat, gesehen, noch kenne ich seinen Namen. Beim Einstiegen und während des Fluges hatte er das Sonnenvisier herunten. Und hinten am Helm stand nur "Andy". "Redolfi", sagt der Pilot, heiße er. 4500 Flugstunden habe er am Helikopter absolviert. Und - nein - Spazierflüge mache er sonst eigentlich keine. "Meistens sind es Rettungseinsätze." Und obwohl ich den Trip mehr als genossen habe, rutscht mir "also die sinnvollen Flüge" heraus. Redolfi antwortet nicht. Aber er lächelt. Und in seinen Augen blitzt es.

Am Weg zurück nach Sölden schaut mich die Dame aus Deutschland befremdet an: "Was hast du denn damit bloß wieder gemeint?" (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 09.12.2013)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Diese Reise wurde von Ötztal Tourismus und den Bergbahnen Sölden unterstützt.

 

Foto: Thomas Rottenberg