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Klare Zeichensprache: Warnung vor wieder wachsendem kommunistischem Einfluss vor knapp einem Jahr in Prag.

Foto: APA/EPA/Singer

Prag/Wien – Am Anfang standen tausende Laufmeter Akten. Wie jede europäische Diktatur im 20. Jahrhundert hat die kommunistische in der Tschechoslowakei eine Unmenge Papier hinterlassen. Produziert wurde es von den zahlreichen Organen, die die innere und äußere Sicherheit gewährleisten sollten und doch nicht verhindern konnten, dass das Regime 1989 innerhalb weniger Tage zusammenbrach.

Dieser Quellenbestand wurde im 2007 geschaffenen Archiv der Sicherheitsdienste zusammengeführt und sollte nach dem Vorbild der Gedächtnisinstitute in den ehemals kommunistisch regierten Staaten Ostmitteleuropas erforscht und dokumentiert werden. Das großflächige Digitalisieren und Zugänglichmachen sollte auch die bis dahin geübte Praxis beenden, durch lancierte Veröffentlichung einzelner Aktenteile (wie etwa im "Fall Zilk" ) Politik und Politiker zu beeinflussen.

Liberaler Grundkonsens

Die Schaffung des Archivs der Sicherheitsdienste und des "Instituts zum Studium totalitärer Regime"  spielte jedoch auch eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit den 40 Jahren der
KP-Herrschaft. Der antikommu­nistische, liberal-demokratische Grundkonsens, der die tschechische (Geschichts-)Politik nach 1989 auszeichnete, beruhte politisch auf der Koalition zwischen der rechtskonservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) mit ihrer Führerfigur Václav Klaus und den diversen rechtsliberalen Parteien mit ihrer symbolischen Leitfigur Václav Havel.

Die Akzente waren verschieden: Die ODS konzentrierte sich dabei auf die späten 1940er- und die 1950er-Jahre, als die Umwandlung des Landes zum Außenposten des Stalinismus erfolgt war. Die rechtsliberalen Parteien wiederum waren auch personell eng mit den Dissidenten der "Normalisierungsperiode"  der 1970er- und 1980er-Jahre verbunden.

Der historische Kompromiss zwischen beiden war auch dem Versuch geschuldet, sich die Interpretationshoheit über die Vergangenheit in dem Moment zu sichern, als ein politischer Linksruck vor der Tür stand. Der Konsens mit den Sozialdemokraten wurde nicht gesucht, auch der "Prager Frühling"  der als "totalitär"  bezeichneten Periode zugerechnet.

Die Anbindung an die (Geschichts-)Politik zeigt sich in der Wahl der Mitglieder des Rates, der den Direktor des Totalitarismus-Instituts bestimmt. Diese werden vom Senat, dem Oberhaus des tschechischen Parlaments, in dem zum Zeitpunkt seiner Entstehung die rechtsliberale Koalition eine satte Mehrheit hatte, ausgewählt. Seitdem haben sich darin die Mehrheitsverhältnisse verschoben, der Institutsdirektor wurde bereits viermal ausgewechselt, wobei es jedes Mal nicht an mit großem medialem Getöse ausgetragenen Konflikten, persönlichen Angriffen und dem Abgang des jeweils mit der gerade abgesetzten Führung sympathisierenden Teils des Personals fehlte. Böse Zungen meinten gar, dass der Geist der Staatsicherheits-Akten auf die Atmosphäre im Institut abzufärben beginne und damit die bisher umfangreich geleistete Arbeit verunmögliche.

Historiker im Dilemma

Schwierigkeiten ergeben sich aus der gesetzlichen Aufgabe des Instituts, gleichzeitig unparteiische wissenschaftliche Forschung, warnende Aufklärung und öffentliche Vermittlung zu betreiben. Die Auseinandersetzungen zeigen, dass auch Historiker in Konflikten zwischen fach­lichem Erkenntnisgewinn, viel­fachen persönlichen Betroffenheiten und politischen Agenden, medialer und finanzieller Zuwendung stehen.

Dazu kommt, dass jetzt Wissenschafter das bisher tradierte Paradigma vom totalitären Regime und der von diesem absolut beherrschten Gesellschaft gerade für die Normalisierungsperiode infrage stellen. Es gehe ihnen dabei nicht um die Relativierung eines dik­tatorischen Regimes, wie ihnen Kritiker vor allem aus dem antikommunistischen, intellektuell-medialen Milieu vorwerfen, sondern um Erkenntnisgewinn, die Berücksichtigung der breiten Skala an Konsens, täglichen Kompromissen und Interessensabwägungen, zwischen denen sich die Menschen bewegten.

Mittlerweile ist mit dem gebürtigen Schweizer Adrian Port-mann von Arburg ein ausgewiesener Kenner des "odsun"  , der Vertreibung und Aussiedelung der Deutschen nach 1945, an die Spitze des wissenschaftlichen Rates getreten. In einem umfangreichen Evaluierungsbericht regen die Experten nicht nur die Akzeptanz einer pluralistischen Erinnerungskultur, sondern auch die Beschäftigung mit einer Frage an, die noch immer geeignet ist, das tschechische Selbstverständnis als "Opfernation"  ins Wanken zu bringen: Warum war gerade die demokratische Periode der Jahre 1945–1948 zwischen NS-Besatzung und KP-Regime eine der gewalttätigsten in der tschechoslowakischen Geschichte des 20. Jahrhunderts?

Niklas Perzi ist Historiker, Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Geschichte der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert. Er kuratierte die gerade in der Niederösterreichischen Landesbibliothek in St. Pölten laufende Ausstellung "Langsam ist es besser geworden ..." , die sich mit der Aussiedelung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945 und ihrer Inte­gration in (Nieder-)Österreich beschäftigt.  (Niklas Perzi /DER STANDARD, 9.12.2013)