Lebenslange Haft für Füsun Erdogan.

Foto: bianet.org

"Ich glaube fest daran, dies ist noch nicht das Ende von Allem. Seit meiner Verhaftung im Jahr 2006 weiß ich, dass die Basis politischer Urteile polizeilicher Falschaussagen sind." So schreibt die türkische Journalistin Füsun Erdogan am 9. November in ihrer Gefängniszelle. Drei Tage zuvor hatte in Istanbul das 10. Höchstgericht für Strafsachen - in einem Sammelprozess die Fälle von 25 Journalistinnen und Journalisten im Eiltempo durchgezogen. Schließlich die Urteilsverkündung mitten in der Nacht vom 5. auf den 6. November um 1.30 Uhr: Lebenslange Haft für Füsun Erdogan und fünf andere.

Der Gerichtssaal ist Fensterlos. Schon nach wenigen Stunden ist die Luft zum Schneiden, umso mehr nach einem solchen Marathon-Prozess wie am 5./ 6. November.  Sauerstoffzufuhr kommt nur durch die Tür, die ab und zu geöffnet wird.  Eine Schwester von Füsun Erdogan – eine ihrer Anwältinnen – bricht im Laufe des Prozesstages zusammen. Hinten am Ende des Raumes sitzen in den wenigen Zuschauerreihen  Prozessbeobachter und Familienangehörige. Eine Reihe von Polizisten steht zwischen diesen und den Angeklagten, um selbst Blickkontakte tunlichst zu verhindern.

"Lebenslang + 789 Jahre Gefängnis + 1,263,320 Lira Fine!"

Tag und Nacht hatte Füsun Erdogan - die Namensgleichheit mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan ist zufällig -  das 57-seitige Urteil studiert und an ihrem Report über die Gerichtsverhandlung  gearbeitet. Was die kurdisch-stämmige Journalistin schreibt, ist erschütternd und wirft ein makabres, ein bedenkliches Licht auf die türkische Judikative. Auf Umwegen erreicht Füsuns Zusammenfassung  das Istanbuler Online-Portal  "Bianet". Am 19. November veröffentlicht dieses den Bericht der verurteilten Journalistin. Titel: "Lebenslang + 789 Jahre Gefängnis + 1,263,320 Lira Fine!" Umgerechnet sind dies 450.000 Euro.

Unter dem fett gedruckten Titel ein Bild von Füsun Erdogan hinter Gefängnisgittern. Abgemagert aber mit einem Lachen im  dem Himmel zugewandten Gesicht. Füsun Erdogan ist Gründerin und Chefredakteurin des unabhängigen Senders "Özgur Radio".  Seit ihrer Verhaftung vor sieben Jahren ist sie lebensgefährlich erkrankt.

Seit sie ihre Freiheit verloren hat, veröffentlicht "Bianet" konsequent ihre Berichte. Ein Blick auf die Website des Online-Portals zeigt die Spuren, die das Leben im Gefängnis auch im Gesicht der Journalistin hinterlassen hat.

"Bianet" hat es sich zur - nicht ungefährlichen - Aufgabe gemacht, inhaftierten Journalistinnen und Journalisten ein Forum zu bieten. So bleibt diesen wenigstens auf diesem Weg ihre Stimme erhalten. So sind sie dennoch präsent, obwohl ihrer Freiheit und Bürgerrechte beraubt.

Verurteilt im Namen des Antiterrorgesetzes

Die anderen 18 Angeklagten erhalten am 5./6. November Gefängnisstrafen zwischen 7 und 37 Jahren. Allen wird Tätigkeit oder Führungspositionen - wie im Fall Erdogan - in verbotenen politischen Organisationen vorgeworfen. Verurteilt wurden sie im Namen des Antiterrorgesetzes. Der Wahrheitsgehalt der  belastenden Polizei-Aussagen wurde nicht überprüft sondern als gegeben genommen. Proteste helfen da nichts. Es ist, wie es sein soll. Menschenrechte sind in der Türkei offenbar ein sehr dehnbarer Begriff.

Auch darüber berichtet "Bianet",  in türkischer und in englischer Sprache. So werden nicht nur türkische Leser informiert. Auch die Welt bleibt darüber auf dem Laufendem, was in Sachen Menschenrechte und Medienfreiheit in der Türkei passiert. Gegründet wurde dieses Portal vor 13 Jahren - also im ersten Jahr dieses Jahrhunderts – und ist  bis heute seinem kritischen, menschenrechtsorientierten Kurs treu geblieben. "Bianet"  greift gesellschaftspolitische Themen jedweder Art auf,  auch solche, die von den türkischen Mainstream-Medien kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. Hauptmotor war und ist die Journalistin Nadire Mater, die zuvor auch als Türkei-Korrespondentin von Reporter ohne Grenzen tätig war.

"Bianet" wird nun mit dem Press Freedom Award - A Signal for Europe" ausgezeichnet. Ein Preis im Namen der Pressefreiheit, den Reporter ohne Grenzen Österreich 2001 aus der Taufe gehoben hat. Gewidmet ist dieser Preis kritischen Journalistinnen und Journalisten in Ost- und Südosteuropa. Medienmenschen, die sich in ihren Beiträgen für Menschenrechte einsetzen und trotz möglicher eigener Gefährdung nicht ihren aufrechten Gang  verloren haben, verlieren. 2013 ist nun dieser Preis türkischen Kolleginnen und Kollegen in Türkei gewidmet.

Keine leichte Wahl

Die Wahl war nicht leicht.  Unter anderen hatten drei inhaftierte Journalistinnen bzw. Journalisten ihre Unterlagen eingereicht, darunter auch Füsun Erdogan.  Die Entscheidung der Jury fiel schließlich auf "Bianet", das in Istanbul angesiedelte Online-Portal, das sich nicht scheut, auch den inhaftierten, in Gefängnissen weg gesperrten Medienmenschen die Möglichkeit zu geben, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu bleiben: nicht für Jahre, Jahrzehnte oder gar ein Leben lang mundtot zu sein. (Rubina Möhring, derStandard.at, 9.12.2013)