Viele Skeptiker sind skeptisch geworden: Anfangs hat man die durchaus gewagten Reformansätze von Papst Franziskus noch eher milde belächelt. Tenor: Netter Versuch des Neuen, doch der Schritt vom Reformgas auf die Bremse ist ein kleiner. Im Hinterkopf ist bei solchen Überlegungen stets Papst Benedikt XVI. - der große Theologe, gescheitert im Amt an seinem eigenen Konservatismus und der reformresistenten Kurie.

Doch langsam macht sich unter den kritischen Kirchengeistern Unsicherheit breit. War man etwa mit dem Entzug der Vorschusslorbeeren für Franziskus zu voreilig? Nimmt da tatsächlich jemand in Rom den Reform-Besen in die Hand und entstaubt mit Gottes Segen die Heiligen Hallen? Die Skeptiker sind skeptisch geworden. Und es macht sich Ratlosigkeit breit: Kann man als kritischer Geist nach Jahren voll von, letztlich verhallten, Rufen nach Reformen jetzt den Papst für seinen offenkundigen Reformwillen loben? Wichtig ist - aus Kritikersicht - der richtige Zeitpunkt für die Reform-Trendwende, denn einmal den Punkt übersehen, wird der lange als notwendig betrachtete kritische Zeitgeist schnell zum Klerikal-Nörgler, welchem man es ohnehin nie recht machen kann – egal, wer gerade am Stuhl Petri sitzt.

Neue Reformwege

In dieser Findungsphase stecken etwa gerade jene Reformgruppen, die insbesondere unter dem letzten Pontifikat entsprechenden Aufwind erlebten. Neben altbekannten "Kämpfern" für mehr katholische Offenheit wie der Plattform "Wir sind Kirche" sorgte gerade in Österreich die Pfarrerinitiative rund um Helmut Schüller - etwa mit ihrem "Aufruf zum Ungehorsam - für gehörig Unruhe in den Bischofshöfen. Zuletzt setzten die Pfarrhof-Rebellen verstärkt auf eine internationale Vernetzung. So brach Helmut Schüller im Sommer zu einer dreiwöchigen Reise durch die USA auf. Sie führte ihn durch 15 Städte, wo er Vorträge zur Zukunft der katholischen Kirche hielt. Für Konfliktpotential war gesorgt, da bereits im Vorfeld Schüller etwa ein Auftrittsverbot in der Erzdiözese Boston ereilte.

Doch der Sommer ist lange vorbei - und die Luft aus der Reformbewegung weitgehend draußen. Zwar ist die Rebellion nicht zu Ende - da gefällt sich Helmut Schüller zu sehr selbst in der Rolle des edlen Kirchen-Retters - aber zumindest funktioniert das altbekannte Machtspiel nicht mehr so recht. Mit ihrem "Aufruf zum Ungehorsam" legten die Kirchenkritiker den österreichischen Bischöfen anfänglich ein umfassendes Paket mit Reformforderungen auf den Tisch. Schwer zu ignorieren für die Heiligkeit, da schon allein der Begriff "Ungehorsam" empfindlich am geltenden Kirchenrecht streift.

Und lässt sich mit Ignoranz nicht mehr strafen, greift man als Kirchenmacht gerne zu einem anderen bekannten, bischöflichen Abwehrmechanismus: Forderungen nach einem Frauenpriestertum oder die Rufe nach einer Lockerung beim Zölibat werden zwar zur Kenntnis genommen. Aber: Entschieden werden solche Dinge nicht auf Ebene der Ortskirchen, sondern in Rom. Dort sagt man Nein - Roma locuta, causa finita. Für die Kritiker war der Fall natürlich nicht erledigt, das Machtspiel hielt aber das Reformfeuer schön am Lodern.

Und jetzt ein neuer Papst. Ein ungewöhnlich offener Papst. Einer, der Reformen will, der "heiße" Eisen anspricht und plötzlich Fragen zur Befindlichkeit des Kirchenvolkes hat. Und plötzlich fliegt der Ball zwischen den Streitparteien nicht mehr hin und her. "Was wollt ihr eigentlich, die ihr da ständig nach dem Umbruch kräht - unser Papst setzt ja ohnehin auf Veränderung", tönt es nun aus dem Bischofshof. Und die Kritiker müssen jetzt neue Wege gehen. Papst Franziskus habe in seiner Amtsausübung "dem Petrusamt Einfachheit, Bescheidenheit und Nahbarkeit zurückgegeben und damit angedeutet, die Kirche auf neue Art leiten zu wollen", konstatiert Schüller jetzt. Nun müssten die Bischöfe die Signale richtig deuten und selbst Reformen einleiten. Und schon ist der Ball wieder im Spiel.

Kleine Geschichten, große Wirkung

Den schärfsten Kritikern zumindest vorübergehend den Wind aus den Segeln zu nehmen - auch eine der vielen Überraschungen, die Jorge Mario Bergoglio in seiner erst achtmonatigen Amtszeit als Papst gelungen ist. Und die unkonventionelle Amtsführung sorgt dafür, dass Kirche wieder (positiv) im Gespräch ist. Nährstoff für die neue Saat der Hoffnung sind vor allem auch die kleinen Alltagsepisoden: Die Suite 201 im vatikanischen Gästehaus Domus Sanctae Marthae, die von der päpstlichen Übergangswohnung zur Dauerresidenz geworden ist.

Ein Papst, der sich im Foyer beim Kaffeeautomaten anstellt oder zu später Stunde allein im alten R4 durch Rom fährt, um Lampedusa-Flüchtlinge zu besuchen. All das trägt zum neuen Positivimage bei - ganz egal, ob sich die Geschichten tatsächlich so zugetragen haben. Die "Marke“ Franziskus stimmt.

Zurück zur moralischen Größe

Aber es sind nicht nur die kleinen Nettigkeiten, die Papst Franziskus so anders machen. In der vorweihnachtlichen Zeit ließ der Papst mit einer "Regierungserklärung" aufhorchen, die durchaus als revolutionär eingestuft werden darf. "Evangelii Gaudium" (Freude des Evangeliums) ist das erste fast ausschließlich von Jorge Mario Bergoglio selbst verfasste apostolische Schreiben. Das Kirchenoberhaupt mahnt darin eine "Erneuerung der katholischen Kirche auf allen Ebenen" an. Franziskus übt scharfe Kritik an der globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung. Hemmungsloses Konsumdenken und ein ideologischer Individualismus hätten vielfach zu einer "geistigen Wüstenbildung" geführt.

In dem 216 Seiten umfassenden Papier weist er auch den Weg zu kirchlichen Reformen: eine "heilsame Dezentralisierung", weg von Rom und hin zu Bistümern und Gemeinden: "Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, statt ihr zu helfen." Der Papst zeigt sich auch zu einer Reform des eigenen Amtes bereit. Er sei offen für Vorschläge, wie dieses neuen Notwendigkeiten angepasst werden könne.

Ebenso deutlich spricht der Papst sich für die Ökumene und den interreligiösen Dialog, besonders mit Judentum und Islam, aus. Das päpstliche "Weihnachtsgeschenk" hat es also in sich - und der Inhalt wird wohl international auf breite Zustimmung weit über die katholische Kirche hinaus stoßen. Klare Worte, wohl dosiertes theologisches Schmückwerk. Der Papst hört auf die Welt und die Welt auf den Papst.

Der Papst, ein Einzelkämpfer?

Der Applaus, vor allem aus dem südamerikanischen Raum, ist dem neuen Papst also sicher. Die neue Armut und Demut steht der Kirche gut. Doch es drängt sich eine Frage auf: Geht man innerkirchlich den neuen Weg mit? Ist das Tempo, das für Rom durchaus revolutionär ist, nicht für manche zu rasant? Zumindest der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn merkte unmittelbar nach Erscheinen der jüngsten päpstlichen Jubelschrift bereits vorsichtig an: "Es ist wirklich spannend zu sehen, wie Papst Franziskus mit großen Schritten voranschreitet. Werden wir den Schritt halten können? Das ist die große Herausforderung, die er der Kirche stellt."

Die Frage, die man stellen muss, ist aber vielmehr: Will man überhaupt, vor allem in Rom, mit dem Reformtempo des Papstes Schritt halten? Besteht nicht die Gefahr, dass nicht auch Franziskus auf dem Weg hin zu einer neuen Kirche über diverse Prügel, wohl platziert aus Kurien-Kreisen, stolpert und letztlich resigniert emeritiert. Denn bei all den Jubelchören angesichts der Aufbruchsstimmung darf man nicht vergessen, dass im Vatikan nur der Mann in Weiß neu im Amt ist. Die Reform der Kurie ist erst angedacht.  Auch wenn der Papst sich derzeit von einer Kommission aus acht Kardinälen beraten lässt, wie eine umfassende Reform der römischen Kurie aussehen könnte - dieser Prozess dürfte nach derzeit bekannter Planung noch lange dauern.

Und bis dahin ist die Macht klar aufgeteilt, die konservativen Kräfte uneingeschränkt stark. Es wird wohl die wahre Herausforderung für Papst Franziskus, an diesen vatikanischen "Schaltstellen" seine Reformwünsche durchzubringen.

Päpstliche Befreiungstheologie

Und die Zahl der internen Kritiker wächst mit dem jedem Schritt in Richtung Erneuerung und Offenheit. Vor allem immer dann, wenn Papst Franziskus ganz bewusst zu seinen Wurzeln steht. Vatikan-Experten sehen nämlich gute Chancen, dass Franziskus eine "vom Marxismus gereinigte" (Vatikan-Experte Marco Politi), entpolitisierte Befreiungstheologie rehabilitiert und ausgeschlossene Theologen zurückholt. Stets im Fokus eine "Theologie des Volkes", wie Jorge Mario Bergoglio sie einst als Erzbischof von Buenos Aires bezeichnete.

Es wird die Zukunft weisen, ob sich die "Theologie des Volkes" auch am Stuhl Petri umsetzen lässt. Neben dem göttlichen Beistand wird Papst Franziskus daher ordentliche Steher-Qualität beweisen müssen, um auch nur einen Teil seiner Reformidee umsetzen zu können. Die Welt liegt dem Papst im Moment zu Füßen, die römische Kurie steht dem Heiligen Vater skeptisch gegenüber. Oder um es mit den Worten des renommierten Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner auszudrücken: "Viele, die ihn gewählt haben, haben ihn unterschätzt. Sie glaubten, einen barfüßig frommen Franziskaner zu bekommen und nicht einen gewieften Jesuiten." (Markus Rohrhofer, derStandard.at, 7.12.2013)