"Diese Stadt wirkt auf mich wie eine Theaterkulisse, in der Schauspieler das falsche Stück aufführen", sagt Benjamin Grilj über Czernowitz, das heute in der westlichen Ukraine liegt. Noch immer wirkt der Mythos von der multikulturellen Idylle dieser einst im äußersten Osten der Habsburgermonarchie gelegenen Hauptstadt der Bukowina nach, deren Bewohner fast 60 Prozent Juden waren.

Während seines vierjährigen Aufenthalts als Dozent für Kulturwissenschaften an der Universität Czernowitz hat der junge Historiker hinter die nostalgische Kulisse dieser Stadt geblickt. Was er dort an verdrängter Geschichte fand, kam für ihn nicht ganz überraschend. Dass er dabei aber auf bisher völlig unbekannte und erschütternd unmittelbare Zeugnisse der Judenvernichtung stoßen würde, warf ein unerwartet grelles Schlaglicht auf die alles andere als idyllische Vergangenheit dieser Region.

Adressaten nie erreicht

Diese Zeugnisse sind 190 Briefe, die ab 1941 nach Transnistrien deportierte Juden an Freunde, Verwandte und Bekannte schrieben. Transnistrien ist jenes Gebiet in der heutigen Ukraine nordwestlich des Schwarzen Meeres, das deutsche und rumänische Truppen 1941 im Krieg gegen die Sowjetunion besetzt hatten. Unter den Verschleppten befand sich auch der Großteil der 60.000 Czernowitzer Juden.

"In Transnistrien starben in den folgenden drei Jahren, bis die Rote Armee das Gebiet 1944 zurückeroberte, zwischen 145.000 und 410.000 Menschen", berichtet Grilj. "An Hunger, Kälte, Epidemien, auf Todesmärschen, bei Massenexekutionen und anderen Gewaltexzessen." 190 Briefe haben über Boten den Weg aus dieser Hölle geschafft. Ihre Adressaten sahen sie nie, denn sie wurden von der Czernowitzer Gendarmerie abgefangen und dem rumänischen Geheimdienst übergeben.

Mit den Sowjets kamen die Briefe 1945 in die Archive des KGB, erst 1989 landeten sie wieder in Czernowitz - gekennzeichnet als UD, als "unikale Dokumente". "Solcherart markierte Dokumente werden gewöhnlich ins Staatsarchiv Kiew überstellt und sind der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich", erläutert Grilj.

Ein Kollege von der Universität, der sie zufällig entdeckte, habe ihn darauf aufmerksam gemacht. Um die Briefe vor dem Verschwinden und Vergessen zu bewahren, hat Grilj mithilfe eines engagierten Archivmitarbeiters die auf Deutsch (meist in Kurrentschrift) und Rumänisch verfassten Nachrichten transkribiert und ins Englische, Ukrainische, Rumänische und Deutsche übersetzen lassen. Vor kurzem sind sie als umfangreiche viersprachige Publikation im Studienverlag erschienen.

Warum die zweijährige Arbeit an diesem Unternehmen emotional anstrengend war, versteht man bei der Lektüre der Briefe. Einer, der die Schrecken der (transnistrischen) Todeslager in Worte fasste, war Paul Celan, aus dessen Todesfuge Grilj den Titel seines Buches - Schwarze Milch - entlehnte. Celans Mutter wurde auf dem Weg nach Transnistrien erschossen, sein Vater starb dort wie so viele an Typhus. Paul Celan selbst überlebte als Übersetzer mehrere rumänische Arbeitslager.

In den Briefen findet man keine Lyrik. Meist sind es verzweifelte Bitten um Geld, Kleidung, Nahrungsmittel oder Fürsprache. Oft mit Flüchtigkeits- und Rechtschreibfehlern, in Eile hingekritzelt an den Rand einer Zeitungsseite oder ein Stück Packpapier. Aber wer diese Zeugnisse vom Überlebenskampf durchschnittlicher Menschen liest, wird sie so wenig vergessen können wie Celans Todesfuge.

Etwa den Brief eines gewissen Januch Hörer: "Lieber Oskar, wie Du siecher informiert wurdest, befinde ich und meine Familie in einer materiell verzweifelten Lage. - Wir sind hier ohne einen Leu und sterben buchstäblich hungers (...). Ich bitte und flehe sich an Verständnis für meine verzweifelte Lage zu haben (...). In der Überzeugung, dass Du mich und meine Familie retten wirst, grüße ich Dich (...)"

In einem anderen Brief wird die Situation vor Ort ziemlich genau beschrieben: "Nur mit namenlosem Grauen schaut man auf die Menschen, die auf ihren Bündeln hockend, Säuglinge und kleine Kinder eng an sich drückend, die Nächte in den zerstörten, fensterlosen Häusern verbringen, um am nächsten Morgen in den grausigen Frost weiter getrieben zu werden."

Das ungefilterte Grauen

Ein Kindermädchen wendet sich an ihre ehemaligen Arbeitgeber mit der Bitte um Hilfe: "Wie glücklich und beneidenswert seit Ihr, dass Ihr dieses Elend und den Gipfel höchster Not nicht sehet und fühlet. (...) Wenn Ihr mir in dieser schweren Zeit mit etwas Geld helfen könntet, wie dankbar wäre ich Euch." Auch dem Kind schreibt sie einige Zeilen: "Mein lieber, süßer Ralph! Ich denke so oft an dich und Piperl und möchte Euch so sehr gerne sehen! Aber nur in Radauti oder sonst irgendwo, denn hier ist es nicht schön. (...)"

Am 5. Dezember 1941 wurde ein Brief an Lucian Salamovici geschrieben, den er nie bekam: "Was wir Alles auf dem Wege hierher erlebt und erlitten haben, lässt sich nicht beschreiben. Gotte gebe, dass ich es Dir in Freuden soll erzählen können. In einem kleinen Flecken Ozarinetz, 12 km von Mohilau - unsere erste Haltestelle - machte der Vater einen Selbstmordversuch. Er trank ein Fläschchen Lysol von 200 gr. Ein Wunder Gottes war es, dass wir ihn retten konnten und dass er eine Infektion mit Fieber bis 40° als Folge der Verbrennungen ohne ärztlichen Beistand und ohne Medikamente überstehen konnte. (...) Sargorod hatte bis jetzt circa 2000 Einwohner, hauptsächlich Juden. Heute sind noch über 4000 Evakuierte hinzugekommen. Man lebt daher, da viele Zimmer überhaupt nicht bewohnbar sind, zusammengepfercht mit bis zu 20 Personen in einem Raume. (...)"

Mittlerweile, sagt Grilj, sind die Briefe bereits gesperrt. Es ist ein Glück für die Forschung, aber auch für die Nachkommen der Deportierten, dass sie nun in ihrer ursprünglichen Schreibweise transkribiert, mit den Faksimiles versehen und gebunden vorliegen. Eine neu erschlossene Quelle, die ohne das zähe Engagement des jungen Historikers, die Hilfe der Czernowitzer Archivare und die finanzielle Unterstützung unter anderem des Zukunftsfonds oder des David-Herzog-Fonds der steirischen Universitäten nichts weiter als ein Stapel vergessener alter Briefe wäre. (Doris Griesser, DER STANDARD, 4.12.2013)