"Das Schulsystem ist selten maßgeschneidert für die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen", sagt Ursula Ruthemann.

Foto: M. Cremer

STANDARD: Die Lehrergewerkschaft hat bei den letztlich von der Regierung einseitig beendeten Dienstrechtsverhandlungen viel mehr "Unterstützungspersonal" in den Schulen gefordert, etwa Sozialarbeiter, Psychologen etc. Was können oder müssen Schulpsychologen im Schulalltag leisten – oder müssen sie die abrufbereite "Feuerwehr" sein, die kommt, wenn es Probleme in der Schule gibt?

Ruthemann: Wenn Lehrkräfte nach mehr Unterstützung rufen, haben sie ziemlich sicher gute Gründe dafür, die es ernst zu nehmen gilt. Der gesuchte Lösungsweg ist eine bildungspolitische und organisatorische Frage: Ist es voraussichtlich einfacher und wirksamer, alle Lehrpersonen für die sich verändernden Herausforderungen des Berufs besser auszubilden oder allen amtierenden Lehrpersonen für den schwierigen Teil ihrer Arbeit mehr Unterstützung zuteilwerden zu lassen? Vermutlich dürfte eine Mischung aus beidem der beste Weg sein.

Die Variante "Feuerwehr" finde ich bedauerlich, weil es bedeutet, dass man Warnsignale ignoriert und wartet, bis das Feuer unterm Dach ist. Ein seriöser Brandschutz wäre ein hoch sensibler Rauchmelder, und in dieser Rolle sehe ich die für die Kinderseele sensitive Lehrperson. Das Problem scheint mir zu sein, dass die meisten Menschen meinen, optimaler Brandschutz sei zu teuer, jedenfalls teurer als die Feuerwehr. Dabei darf man davon ausgehen, dass sich jede Präventionsmaßnahme in der Kindheit und Jugend über die Lebensspanne sogar finanziell auszahlt und nicht nur pädagogisch und ethisch die bessere Lösung ist.

STANDARD: Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer beklagen sich, dass sie neben ihrer "eigentlichen" Arbeit, dem Unterrichten, auch Sozialarbeiter, Erzieher oder Psychologen sein sollen, was viele nicht wollen, wofür sie aber auch nicht ausgebildet sind. Müssen Lehrer, die Kindern nicht nur als Lernenden gerecht werden wollen, das in Zukunft in der Ausbildung lernen, oder ist das der Job für das Supportpersonal?

Ruthemann: Jedes Lehren und Lernen – egal in welchem Unterrichtsfach – findet immer in einer Lehrer-Schüler-Beziehung statt. Die Qualität dieser Beziehung färbt ab auf die Haltung, die Kinder und Jugendliche gegenüber dem Unterrichtsfach entwickeln. Insofern sollte man die Beziehungsarbeit in der Schule nicht an andere Berufsgruppen delegieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass für einzelne Schülerinnen und Schüler kein Supportsystem vorhanden sein sollte, mit dem Fehlentwicklungen verhindert oder korrigiert werden können.

STANDARD: "Individualisierung" ist eines der "Zauberworte" in der Schuldebatte. Sie gilt als die Lösung für viele Probleme. Aber wie können Lehrer, die in der Regel noch immer allein in einer Klasse stehen, überhaupt "individualisierten" Unterricht realisieren, damit es mehr als ein Schlagwort ist?

Ruthemann: Die Differenzierung des Unterrichts profitiert zwar von kleineren Klassengrößen, also auch von Teamteaching, aber sie ist vor allem eine Frage des Menschenbildes und der methodisch-didaktischen Unterrichtsgestaltung. Es spielt auch die Fähigkeit von Lehrkräften eine Rolle, angesichts der Heterogenität im Schulzimmer die Übersicht zu behalten. Heterogenität sollte eine Herausforderung und nicht ein Problem sein.

Auch früher waren die Kinder verschieden, man hat ihnen nur befohlen, gleich zu sein, und ihre Verschiedenheit ignoriert oder wegerzogen. Die individuellen pädagogischen Bedürfnisse von Kindern ernst zu nehmen ist also der Versuch, Ungerechtigkeiten der Schule zu mildern. Eine moderne Didaktik bietet durchaus ein breites Spektrum an Methoden, gleichzeitig verschiedene Menschen verschieden zu lehren, ohne dass Lehrpersonen Übermenschen sein müssen.

STANDARD: Befürworter des differenzierten Schulsystems – Österreich selektiert nach der Volksschule in Haupt- bzw. Mittelschüler und Gymnasiasten – argumentieren auch, dass so quasi "homogene" Klassenstrukturen geschaffen werden. Ersetzt das "Individualisierung" im Unterricht?

Ruthemann: Nein. Weil es nicht nur zwei Sorten von Menschen gibt. Ein Schweizer Schulreformer hat einmal Mehrklassenunterricht eingeführt, also vorsätzlich das Gegenteil von Homogenisierung betrieben, um damit die Lehrkräfte zu erziehen. Das Ziel war, Lehrern das Wunschdenken abzugewöhnen, eine homogene Klasse vor sich zu haben, in der man alle gleich behandeln kann. Um für möglichst viele Kinder und Jugendliche die bestmögliche Bildung zu gestalten, wird es immer notwendig sein, sowohl äußere Differenzierung – Trennung nach Leistungsniveaus oder Interessen – als auch innere Differenzierung – individualisierenden Unterricht – zu praktizieren. Ich halte viel davon, wenn man den einzelnen Schulen viel Handlungsspielraum zugesteht, zur jeweiligen Situation in der Gemeinde die passenden Lösungen zu finden.

STANDARD: Aus psychologischer Sicht betrachtet: Kann man bei einem zehnjährigen Kind eine begründete Prognose über seine Leistungsfähigkeit abgeben?

Ruthemann: Selbstverständlich ist – entwicklungspsychologisch gesehen – ein zehnjähriges Kind nicht in seiner Potenzialentfaltung "fertig" oder festgelegt. Aber das Schulsystem ist kein Kind der Entwicklungspsychologie, sondern das, was die Gesellschaft bereit ist, ihren Kindern anzubieten. Die Forschung zeigt, dass die familiäre Herkunft viel von den Bildungschancen bestimmt, die ein Kind bekommt. Das hat möglicherweise weder mit den Begabungen des Kindes noch mit dem Schulsystem zu tun, sondern mit den Erwartungen der Eltern und mit der Lobby, die ein Kind hat. Weiters sind Kinder erstaunlich anpassungsfähig, auch an eine Situation der reduzierten Lebenschancen durch den Übertritt in eine gegliederte Schulstufe. Die Struktur eines Bildungssystems dürfte immer mehr geprägt sein von gesellschaftlichen Bedingungen und ist selten maßgeschneidert für die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen.

STANDARD: Verfehlt sie damit nicht ihr eigentliches Ziel?

Ruthemann: Eine Gesellschaft muss entscheiden, was ihr die Bildung der jungen Generation wert ist. Das Bildungssystem steht in Konkurrenz zu anderen Kosten, die in einem Staat finanziert werden müssen. Natürlich würde ich persönlich mehr Geld in Bildung investieren und dafür Militär und Autobahnen vernachlässigen, aber meine Meinung ist nicht mehrheitsfähig. Ich finde allerdings auch die Haltung problematisch, dass nur das Gymnasium ein guter Lernort sei. Meines Erachtens sollte ein Handwerker mit gesundem Selbstwertgefühl und erfolgreich in der Lehre seine Begabungen entfalten und mit Freude seinen Beruf ausüben können, ohne dass diesem Bildungsweg ein Makel anhaftet. So sehr ich für mehr Bildung bin, so sehr bin ich gegen Akademikerdünkel.

STANDARD: Sie als Psychologin beziehungsweise Therapeutin gefragt: Wie definieren Sie das "Lernziel" von Schule?

Ruthemann: Was die Schule am meisten lernen sollte, ist, kindgerecht zu werden. Wenn das die vorrangige Leitplanke für Schulentwicklung wäre, dann schadet auch die Leistung nicht. Kinder wollen etwas leisten, sie wollen ihre Persönlichkeit entfalten und einen für sie sinnstiftenden Platz in der Gesellschaft finden. Auf diesem Weg könnte die Schule für Kinder sowohl Schonraum als auch "Förderverein" sein. Als Lehrerbildnerin bin ich so optimistisch zu glauben, dass die meisten Lehrkräfte für dieses Verständnis von Schule offen sind.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 2.12.2013)