Im Dorfe Postabitz sitzt eine Frau mit Namen Anna am Tisch und schreibt einen mit Fehlern gespickten Brief. "Inigsgelibter Gatte! Ich theile Dir mit, daß Ich mich verfelt habe", so ihre Worte an den zuvor totgeglaubten Ehemann. "Ich bin in Hoffnung gerathen, von einem anderen" , schreibt sie in dem drastisch-skurrilen Schriftstück, aber "vileicht stirbt das Kind und dan ist alles wieder gut". Und: "Bei uns ist alles sehr teuer, es ist gut, daß Du fort bist, im Feld kostet Dich wenigstens das Essen nichts."

Für den Fotohistoriker Anton Holzer ist dieser Brief in Karl Kraus' Weltkriegscollage Die letzten Tage der Menschheit (V. Akt, 34. Szene) eine der wichtigsten Passagen. Der Text ist nicht nur erschreckend traurig, sondern decouvriert auch Aspekte jener Zeit, die in den offiziellen Rückschauen selten erscheinen: das Verhältnis der Geschlechter im Krieg, die Auflösung des monogamen Gefüges, Hunger und Not im Hinterland, auch die unzuverlässige Kommunikation mit den Soldaten an der Front.

Das Foto eines lesenden Soldaten, das Holzer dem Brief in seinem Bildband über den Ersten Weltkrieg gegenüberstellt, macht die Geschichte von Anna und ihrem Mann vollends zum Drama. Der abgebildete Soldat mit schiefer Kappe, der da in seine Lektüre versunken ist, steckt zur Hälfte in einer Art Fass. Eine Umgebung aus Erde und Stroh fasst seinen Körper, er stützt sich unbequem mit einer Hand. Als würde er noch schnell einen Brief aus der Heimat lesen, bevor es zurück in die Schlacht geht.

Holzer will Kraus' Texte nicht als abgehobene literarische Allegorie auf den Krieg, sondern als "dokumentarische Chronik des Krieges" sehen. Der Band rekonstruiert in Ansätzen jene Bilderwelt, die dem manische Zeitungsleser Kraus zur Verfügung stand.

Als leidenschaftlicher Bildersammler trug Kraus "Ansichtskarten, Fotografien, Plakate und vor allem Zeitungsbilder zusammen, die er den Illustrierten entnahm", schreibt Holzer im Vorwort. Sie inspirierten Kraus zu seinem umfassenden Kompendium einer Gesellschaft im Krieg. Für den Fotohistoriker sind Die letzten Tagen der Menschheit auch ein "Bilder-Buch des Ersten Weltkriegs".

Und so wie Kraus die Propagandasprache der Zeitungen entblößte, die er täglich durchackerte, werden auch die Bilder im Zusammenhang mit den Texten "gegen den Strich gebürstet". Einerseits offenbaren sich Verlogenheit und Unvollständigkeit der offiziellen Kriegsbilder. Andererseits geben die Fotos, die nun in neuem Licht erscheinen, dem Drama ein Gesicht.

Der Bildband, aus dem viele Fotos dieser Standard-Schwerpunktausgabe entnommen sind, ist nicht das erste Buch Holzers, das sich mit dem Ersten Weltkrieg befasst. Bereits Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg und Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918 (beide bei Primus) beschäftigten sich mit der Fotografie im ersten großen Medienkrieg. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 30.11.2013)