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Christopher Clark: "Natürlich war Österreich verantwortungslos. Aber welche andere Möglichkeit hatte es?"

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Tyne Cot in Belgien ist der größte Commonwealth-Soldatenfriedhof der Welt.

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STANDARD: Herr Professor Clark, haben Sie zu viel Robert Musil und Joseph Roth gelesen?

Clark: (lacht) Man kann nicht zu viel Musil und Roth lesen. Das gibt es nicht.

STANDARD: Ich frage das, weil Sie in Ihrem Buch "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" (DVA) relativ nett zur österreichisch-ungarischen Monarchie sind. Sie sagen, die Monarchie war gar kein "failed state", sie war gar nicht unbedingt zum Untergang verurteilt, sie war sogar vergleichsweise ein Rechtsstaat und zivilisatorisch auf der Höhe. Die Monarchie wurde sozusagen zu Tode geschrieben.

Clark: Das stimmt. Wenn man z. B. Benes oder Masaryk vor 1914 liest, dann ist auch bei ihnen, den großen Vätern der tschechischen Nationalbewegung, zu hören, dass sie sich ein Europa ohne Habsburg, ohne dieses Konglomerat Österreich-Ungarn nicht vorstellen können. Sie gehen nicht nur von der weiteren Existenz der Monarchie aus, sondern von ihrer Notwendigkeit - als Sicherheitsarrangement für die kleineren Nationen in Europa. Die wurden dann erst im Nachhinein zu Propheten des Untergangs.

STANDARD: Im Gegensatz dazu haben Sie sich in Ihrem Buch sehr eingehend mit Serbien beschäftigt, was sonst nur wenige Historiker tun, und da entsteht - zugespitzt - der Eindruck, Serbien sei ein Schurkenstaat, ein Rogue State, der völlig von hypernationalistischen Geheimbünden unterwandert war und gegen die Mörder von Franz Ferdinand nichts tun konnte oder wollte.

Clark: Ich würde den Begriff Schurkenstaat vollkommen ablehnen. Das ist eine Beleidigung, die uns nicht weiterbringt. Ich benutze den Begriff auch nicht. Was man doch sagen kann, ist, dass Serbien gerade in dieser Zeit in einem sehr chaotischen Prozess des Wandels war, ausgelöst durch die Gebietserweiterung nach den Balkankriegen 1912/13 und durch die prätorianische Bewegung "Vereinigung oder Tod". Diese Leute hatten in der Tat eine so mächtige Stellung, dass der Staat schwerlich ihrer Herr werden konnte. Dazu ein nationalistisch-expansionistisches Klima, wo man vom Begriff eines Volkstums, des Serbentums, ausging. Aber das war überall auf dem Balkan so.

STANDARD: Sie sagen ja, es mache keinen Sinn, eine Rangordnung der Schuld am Ersten Weltkrieg aufzustellen. Also: Es war Deutschlands Hegemonialwille etc.

Clark: Es ist sinnlos, eine einzelne Entscheidung, etwa die Zusicherung deutscher Hilfe an Österreich - was meist als wesentliches Moment betrachtet wird -, ohne den Kontext hervorzuheben. Wenn alle den Krieg nicht wollten, aber bereit waren, Krieg in ihr strategisches Denken einzuverleiben, dann heißt das, Schuld greift nicht mehr. Man muss stattdessen von Merkmalen des Systems sprechen, von einer gemeinsamen politischen Kultur. Es wollte keiner dem Krieg aus dem Weg gehen.

STANDARD: War es nicht doch unverantwortlich von Österreich, an einen isolierten Krieg gegen Serbien zu glauben?

Clark: Natürlich war das verantwortungslos und eine Leichtsinnigkeit ohnegleichen. Andererseits muss man sich fragen, was gab es denn für andere Möglichkeiten in der Situation damals? Es spielt aber eine Rolle, dass die Franzosen und die Russen nicht bereit waren, Österreich irgendein Recht auf Genugtuung zuzubilligen. Aber wenn wir sozusagen virtuelle Geschichte betreiben, dann wäre es besser gewesen, Österreich hätte klein beigegeben.

STANDARD: Virtuelle Geschichte - das damalige Konzert der europäischen Mächte oder das Bündnissystem hat eigentlich in die Katastrophe geführt. Wenn es damals die EU schon gegeben hätte ...

Clark: (lacht) Es hätte wahrscheinlich keinen Krieg gegeben. Es hätte schiedsrichterliche Instanzen gegeben, eine gemeinsame Rechtskultur. Man wäre sich einig gewesen, wie die Komplizenschaft verschiedener Teile des serbischen Staates zu beurteilen ist, wie das geahndet werden sollte. Es hätte Prozesse gegeben, die 1914 nicht da waren. Das vollkommene Fehlen eines europäischen Konzerts ist eine grundlegende Voraussetzung für den Ausbruch dieses Krieges. Der gemeinsame Glaube an die Notwendigkeit Österreich-Ungarns als Sicherheitsfaktor für den Kontinent fehlte. In den letzten Vorkriegsjahren ist man bereit, Österreich-Ungarn aufzugeben, und spricht ganz offen von seiner Auflösung zugunsten von kleinen Nationalstaaten. Das ist natürlich eine sehr fatale Entwicklung gewesen. Die Österreicher haben sich mit Recht 1913/14 sehr isoliert gefühlt. Ein Entscheidungsträger hat damals gesagt: Man rät uns, wir sollen an Europa appellieren, aber Europa gibt es nicht. (Hans Rauscher/DER STANDARD, 30.11.2013)