Schutzbedürftig: Aber konnte die Madonna einen Mann auf einem Foto so zuverlässig erkennen, dass sie ihn im Trommelfeuer des Kriegs zu beschützen vermochte?

Fotos: Einsiedeln
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Der Poststempel November 1916: ein dicker brauner Umschlag, adressiert an den Pater eines schweizerischen Klosters, mit einer rätselhaften Aufschrift: "Krieger-Fotografien". Darin Dutzende von Porträts - elegante adelige Offiziere, gepflegte Bürger in Zivil, Verletzte in Lazaretten und einfache Bauernsöhne in nicht immer perfekt sitzenden Uniformen. Warum schickt ein Kloster in Südtirol während des Ersten Weltkriegs stapelweise Fotos von Soldaten in die Schweiz?

Die Bilder waren an die "schwarze Madonna" im Innerschweizer Benediktinerkloster Einsiedeln gerichtet - ein wunderwirkendes Gnadenbild aus dem späten Mittelalter, im 19. Jahrhundert Ziel großer organisierter Wallfahrten. Im Klosterarchiv liegen heute mehr als 3000 solcher Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Sie wurden versehen mit der ausdrücklichen Bitte, sie direkt neben oder vor das wunderwirkende Marienbild zu platzieren, damit der auf dem Foto abgebildete Soldat unter dem Schutz der Muttergottes unversehrt aus dem Krieg zurückkehre.

Die Madonna war neutral: Deutsche Soldatenfotos liegen in den Schachteln im Einsiedler Archiv einträchtig neben Italienern, Franzosen und einzelnen Engländern, Belgiern und Amerikaner. Ein beträchtlicher Teil der Fotos - etwas mehr als ein Drittel - kommt aus Österreich: Aus Vorarlberg haben ganze Dörfer die Fotos ihrer eingezogenen Soldaten zur Einsiedler Madonna geschickt, ebenso aus Tirol und aus dem Trentino.

Auffällig ist die scharfe Begrenzung auf die beiden westlichen Bundesländer des heutigen Österreich: Mit Ausnahme einer Handvoll Fotos aus Linz, Wien, Prag, Budapest und Czernowitz ist der Rest der Donaumonarchie in Einsiedeln nicht vertreten.

Offizielle Porträtfotos in Uniform, häufig von Fotografen in oder bei der Kaserne hergestellt, finden sich ebenso wie Fotopostkarten von Schnappschüssen hinter der Front und privaten Porträts in Zivil. Sie machen ein erstaunlich breites soziales Spektrum auf: Teure großformatige Atelierporträts von Fotografen, die in Wien, Berlin und London für hochadelige Kreise arbeiteten, bis hin zu billigen Papierabzügen und daumennagelgroßen Schnipseln aus Gruppenaufnahmen, die arme Bauern und Fabrikarbeiter zeigen.

Also katholische Bildmagie? Eine österreichische Gräfin schickte sorgfältig in mehreren Tinten bemalte und beschriftete Fotos ihrer Angehörigen an die Madonna; andere fertigten sorgfältig komponierte Gruppenbilder als Collagen an. Andere Fotos mussten dagegen erst auf den einzelnen schutzbedürftigen Soldaten zugeschnitten werden, im Wortsinn: Was für die Versendung an die Einsiedler Madonna nicht passte - falsche Freunde? Damen? Bräute? - kam unter die Schere.

In den erhaltenen Briefen zu den Fotos und auf den Fotos selbst vermischen sich direkte Anrufungen - "Maria te protegat!" - mit Bitten an ihre irdischen Untergebenen. Ein gewisser August Bernauer, "Vater von neun Kindern und zur Zeit in Russland", wie er auf der Rückseite des Fotos notierte, wandte sich Mann zu Mann an den Klostervorsteher: "Hochwürdiger Herr Abt", schreibt er, "hätten Sie vielleicht noch ein Plätzchen für mich in der Gnadenkapelle?"

Andere Briefe nehmen den Ton von strengen Anweisungen an: "15 Franken für drei Totenmessen und zwei Messen am Marienaltar. Lege noch eine Fotografie bei, die Sie unter den Schutze Mariens tun werden." Die besorgte Mutter eines Alfonso in Galauniform sandte dessen aufwändiges Fotomit der Widmung "alla mia buona e cara mamma", gewissermaßen an beide Mütter gleichzeitig gerichtet. Wieder andere schickten Kinderfotos erwachsener Soldaten: aus der Überlegung, die Madonna (die ja schließlich selber Mutter ist) mit Kinderfotos besonders wirkungsvoll zu rühren.

Explizit wird in den erhaltenen Briefen das Konzept eines Tauschs: Man gab ein Bild, um einen lebendigen Körper wiederzubekommen. Das Einsenden der Porträts der bedrohten Soldaten, um sie zu beschützen, dokumentiert nicht nur einen festen Glauben an die Macht der Muttergottes, sondern auch mindestens ebenso festen Glauben an das Medium Fotografie und an eine himmlische Registrierungsbürokratie. Denn ihr musste - wie ihren irdischen Gegenstücken bei Bittbriefen und Eingaben - möglichst sorgfältig mitgeteilt werden, um welche Person es denn gehe.

Manche Einsender stellten die besonderen Verdienste der dem Schutz der Muttergottes Anempfohlenen unübersehbar heraus. "Zwei angehende Theologiestudenten", steht auf der Rückseite eines Bildes; zu dem Kreuz ist vermerkt: "Schon in Tübingen!"

Die Einsiedler Soldatenfotos sind deswegen auch ein Stück Geschichte des Identifizierens. Konnte die Madonna einen einzelnen Mann auf einem Foto so zuverlässig erkennen, dass sie ihn auch im Trommelfeuer des industrialisierten Kriegs effizient zu beschützen vermochte? Viele der Bilder zeigen nicht einen, sondern mehrere Soldaten in Gruppenbildern. Derjenige, den die Muttergottes beschirmen soll, ist hervorgehoben; durch Kreuze oder einen hinzugefügten Vornamen - schließlich sollte die Madonna den Richtigen beschirmen.

Fotos halten etwas fest

In denselben Monaten, in denen die ersten Soldatenfotos bei der schwarzen Madonna von Einsiedeln ankamen, wurde überall in Europa ein seit fast fünfzig Jahren abgeschafftes altmodisches Ding über Nacht wiederbelebt: der Reisepass. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten die meisten europäischen Länder auf den Zwang zum Ausweis verzichtet. Bei Kriegsausbruch 1914 wurde er sofort wieder obligatorisch gemacht. Obwohl die Kriminalisten zunehmend davon abgekommen waren, Verdächtige durch Fotos identifizieren zu wollen (schließlich stand ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts der zuverlässigere Fingerabdruck zur Verfügung), wurde am Beginn des Ersten Weltkriegs das neue Identitätsdokument zum ersten Mal mit einem Passfoto ausgestattet. Wie die frommen Angehörigen der Soldaten auf den Einsiedler Bildern glaubten auch die Bürokraten an die Macht der Fotografie.

Was dokumentieren diese Fotos eigentlich? Wenn es eine Lieblingstechnologie des magischen Denkens in der Moderne gibt, dann ist es die Fotografie. Auf den Rückseiten vieler Porträts in den Einsiedler Archivschachteln finden sich Aufschriften, die Sicherheit, Beständigkeit und Wiederholbarkeit qua Abbild suggerieren. Sie stammen aber nicht von den frommen Angehörigen der Soldaten, sondern von den kommerziellen Produzenten dieser Bilder. "Diese Platte bleibt für Nachbestellungen aufbewahrt", versprach das Fotoatelier Ranzenberger aus Mainz seinen Kunden; "Nachbestellungen bis Lebensgröße" versicherte dessen Münchner Kollege. Ein Fotohaus in Schaffhausen trug das Versprechen gleich im Namen: "Wiederkehr".

Fotografieren ist immer auch die magische Verheißung, die Zeit anzuhalten: Fotos sind Sehnsuchtsgegenstände, die einer psychischen Zeit materielle Form verleihen. Sie halten etwas fest, was eigentlich schon in der Zeit verschwunden ist. Darauf beruhen die starken Wirkungen, die sie auslösen können: ein Versprechen auf die Wiederholbarkeit fragiler lebendiger Körper - fragil und vergänglich, weil lebendig - durch ihre Fixierung auf lichtempfindlichen Silbersalzen auf kleinen viereckigen Stückchen Karton oder Papier.

Ganz wie die besorgten Angehörigen der Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg bewahren wir ja selber vorzugsweise Fotos von Dingen und Personen auf, die uns auf Dauer unverfügbar sind. Haben wir deswegen alle diese Bilder unserer Liebsten in der Brieftasche, auf dem Schreibtisch und an der Wand hängen? (Valentin Gröbner, Album, DER STANDARD, 30.11./1.12.2013)