Boris Nikolai Konrad ist mehrfacher Weltmeister im Gedächtnissport. Seine Brötchen verdient er aber nicht mit Turniersiegen, sondern mit Vorträgen und seiner Tätigkeit als Hirnforscher.

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In "Superhirn - Gedächtnistraining mit einem Weltmeister" (Goldegg Verlag) erklärt Boris Nikolai Konrad, wie man Gedächtnistechniken erlernt und welche Erkenntnisse aus der Hirnforschung dabei zur Anwendung kommen.

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Um 300 Wörter korrekt wiederzugeben braucht er 15 Minuten, bei 200 Namen und Fotos dauert es auch nicht länger. Boris Nikolai Konrad ist Weltmeister im Gedächtnissport und Weltrekordler im Merken von Namen - mit Hilfe von Techniken, die jeder lernen kann, wie er sagt. Im Interview mit derStandard.at spricht der Deutsche über seine Faszination für das menschliche Gehirn und erklärt, warum er keine Einkaufslisten mehr schreiben muss. Am Wochenende findet im britischen Croydon die Gedächtnisweltmeisterschaft statt. Konrad ist einer von rund 130 Teilnehmern aus 30 Nationen.

derStandard.at: Kann man Gedächtnissport zum Beruf machen und davon leben?

Konrad: Leider noch nicht. Es gibt zwar inzwischen Turniere, bei denen die vorderen Plätze mit Preisgeldern verbunden sind, zum Leben reicht das aber noch nicht.

derStandard.at: Wie hoch ist das Preisgeld?

Konrad: Das höchste Preisgeld gab es bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren mit 20.000 US-Dollar für den Gesamtsieg, im kommenden Jahr wird es ein ähnlich hoch dotiertes Turnier geben. Das ist aber das Maximum.

derStandard.at: Wie lautet Ihre genaue Berufsbezeichnung?

Konrad: Ich würde Gedächtnisexperte sagen. Zum einen bin ich in der Hirnforschung tätig, ich habe eine wissenschaftliche Anstellung am Max Planck Institut für Psychiatrie in München. Zum anderen halte ich Vorträge, gebe Seminare und habe dieses Buch geschrieben. Nimmt man alles zusammen, finde ich das Wort Gedächtnisexperte passend.

derStandard.at: Zu welchen Teilen bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?

Konrad: Finanziell mehr durch Vorträge und Trainings, deutlich mehr Zeit verbringe ich allerdings im Institut.

derStandard.at: Am Wochenende findet die Gedächtnisweltmeisterschaft statt. Welches Ziel haben Sie?

Konrad: Im letzten Jahr bin ich Team-Weltmeister geworden, diesen Titel möchte ich natürlich verteidigen. In der Einzelwertung war ich Vierter, da möchte ich heuer das Podium angreifen. In den Einzeldisziplinen möchte ich auch erfolgreich sein und zum Beispiel die Disziplin "Namen merken" gewinnen, in der ich den Weltrekord halte.

derStandard.at: Wie bereiten Sie sich vor?

Konrad: Alle Gedächtnissportler benutzen ja Gedächtnistechniken. Diese basieren beispielsweise darauf, dass man sich Sachen entlang von bekannten Wegen einprägt oder dass man Zahlen in Bilder umwandelt. Das kann man sehr gut trainieren. In den schnellsten Disziplinen müssen Teilnehmer innerhalb von einer halben Sekunde eine dreistellige Zahl in ein Bild umwandeln und diese auf einen Wegpunkt legen. Das muss man üben.

derStandard.at: Die Gesamtwertung setzt sich aus zehn verschiedenen Disziplinen zusammen. Wie sehen die einzelnen Bewerbe aus?

Konrad: Meistens gibt es eine bestimmte Einprägephase, die schwankt zwischen fünf Minuten und einer Stunde. Hier bekommt man vorgelegt, was man sich merken soll. Bei Zahlen ist es eine Seite mit zufälligen Ziffern. Zum Schluss kommt die Wiedergabephase mit einer Zeit, die meistens etwas länger ist als die Einprägezeit. Hier schreibt man auf, an was man sich noch erinnern kann. Dann gibt es beispielsweise für jede richtige Reihe eine gewisse Punktezahl. Der Weltrekord im Zahlen merken liegt nach fünf Minuten bei 500 Ziffern.

derStandard.at: Und wenn auch nur eine Zahl falsch ist, fliegt man dann bereits aus der Wertung?

Konrad: Es gibt einen Wertungsmodus, bei dem 40 Ziffern in einer Reihe stehen. Die Reihe muss komplett richtig sein. Habe ich irgendwo einen Fehler eingebaut, verliere ich nur diese Reihe, die nächste Richtige wird wieder gezählt.

derStandard.at: Sie sind Weltrekordler im Merken von Namen. Was muss man dafür leisten?

Konrad: Bei Turnieren bekommen Teilnehmer Zetteln mit Fotos ausgeteilt. Unter jedem Foto steht ein Vor- und ein Nachname. Also etwa Oliver Mark oder Huan Chenschu, das ist international gemischt. Das muss ich mir einprägen. Bei der Weltmeisterschaft hat man dafür 15 Minuten Zeit. Anschließend werden diese Zettel eingesammelt, neue mit den gleichen Fotos in einer anderen Reihenfolge werden ausgeteilt. Dann muss ich jene Namen darunterschreiben, die mir noch einfallen. Im Jahr 2010 ist es mir bei der deutschen Meisterschaft geglückt, 201 Namen richtig aufzuschreiben.

derStandard.at: Ist das ein Traum, einmal vom Gedächtnissport leben zu können?

Konrad: Ich habe mir den Traum erfüllt, weil ich von meinem Thema leben kann. Das sind nicht die Bewerbe alleine, sondern dazu gehört meine Forschungsarbeit und Vortragstätigkeit. Dass es nur von den Preisgeldern gehen wird, glaube ich nicht. Reichen wird es wohl auch nicht für die Besten, nicht einmal Olympiasieger können in vielen Disziplinen von ihrem Sport leben. Unser Ziel ist es, die Wettkämpfe für Publikum attraktiver zu machen, da gibt es noch viel Potenzial.

derStandard.at: Im schulischen Kontext verliert das Auswendiglernen an Bedeutung, alles kann sofort nachgeschaut werden. Finden Sie als Gedächtnissportler diese Entwicklung bedauerlich?

Konrad: Ich sehe das kritisch, weil Studien belegen, dass Schüler heute mit weniger Wissen von der Schule abgehen. Für manche ist das nicht schlimm, die sagen: "Egal, es steht ja eh alles in Wikipedia." Neue Ideen können aber nur entstehen, wenn Wissen da ist, auf dem sie fundieren können und neue Inhalte werde ich mir nur dann leicht merken können, wenn schon ein Vorwissen vorhanden ist. Der negative Ruf ist schade, weil die meisten nur an Gedichte-Auswendiglernen denken. Das macht tatsächlich keinen Sinn, aber das Lernen an sich, und zwar mit den richtigen Methoden, macht zum einen Spaß und zweitens bildet es ein Wissensnetz, auf dem neue Informationen aufbauen können. In der Hirnforschung gibt es klare Beweise dafür. Wenn ich etwas auf Wikipedia nur lese, verstehe und behalte ich viel weniger davon, als wenn ich mir vorab einige Schlüsselwörter gemerkt habe.

derStandard.at: Nach welchen Gedächtnistechniken sollte gelernt werden?

Konrad: Nur ein Beispiel für das Denken in Bildern ist die Routenmethode. Vorab prägt man sich einen bekannten Weg ein, hier legt man mit Hilfe von lustigen Bildern Dinge ab, die man sich einprägen möchte. Man lernt nicht ein ganzes Buch auswendig, sondern legt vielleicht für jeden Absatz oder jede Seite ein Bild ab, das mich daran erinnert. Etwa für Elektrolyse eine elektrische Lampe. Hinterher habe ich eine Struktur aufgebaut, lese ich dann etwas zu diesem Thema, bleibt automatisch mehr hängen, weil bereits Wissen da ist. Es geht um das Aufbauen von Stützstellen.

derStandard.at: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Person, die über unglaubliches autobiografisches Wissen verfügt und sich erinnert, was sie an jedem Tag ihres Lebens gemacht hat. Wie ist das erklärbar?

Konrad: Erklären kann das noch keiner. Das Phänomen wurde erst in den letzten Jahren entdeckt, ausgehend von einer Person namens Jill Price. Sie ging zum Arzt und klagte, dass sie sich alles merkt. Eine belastende Situation für sie. Weltweit wurden bis jetzt rund 30 Leute gefunden, die über so ein extrem gutes autobiografisches Gedächtnis verfügen. Meistens beginnend ab der Pubertät kann man ihnen irgendein Datum nennen und sie erzählen, wo sie an dem Tag waren und was sie gemacht haben.

derStandard.at: Ein zu gutes Gedächtnis kann auch zum Problem werden, weil schmerzhafte Erfahrungen aus der Vergangenheit ständig vergegenwärtigt werden?

Konrad: Klassisch ist die posttraumatische Belastungsstörung, die nach Traumata ausgelöst wird und bei der sich Menschen immer wieder an Belastendes aus der Vergangenheit erinnern. Das ist also tatsächlich ein Gedächtnisproblem. Es gibt keinen Weg, Erinnerungen einfach zu löschen. Bei solchen Patienten löst man die Emotionen aus der Erinnerung, damit diese nicht schmerzhaft zum Vorschein kommen, auch wenn man sich an die konkrete Situation erinnert.

derStandard.at: Sie behaupten, dass praktisch jeder so ein guter Gedächtnissportler werden kann wie Sie.

Konrad: Das glaube ich schon, ja. Obwohl natürlich nicht jeder einfach meinen Weltrekord brechen kann, da mag auch Motivation und Talent eine Rolle spielen. Ganz klar ist aber, dass ein gutes Gedächtnis erlernbar ist, jeder kann sich massiv verbessern. Etwa indem er sich 25 oder 30 Leute mit Namen merkt, die er bei einem Seminar oder auf einer Party kennenlernt. Jene, die das nicht können, werden schon alleine das unglaublich finden.

derStandard.at: Innerhalb welchen Zeitraums?

Konrad: Bei mir mussten Leute einen ganztägigen Kurs am Wochenende besuchen und im Anschluss sechs Wochen lang je eine halbe Stunde am Tag üben. In bestimmten standardisierten Gedächtnistests, die man aus der Psychologie kennt, konnten Teilnehmer ihre Leistung verdoppeln.

derStandard.at: Nimmt die Leistung danach nicht wieder rapide ab?

Konrad: Nein, weil es Techniken sind, die man anwenden kann.

derStandard.at: Das heißt, man kann es monatelang nicht anwenden und sofort wieder reaktivieren, wenn Bedarf vorhanden ist?

Konrad: Ja, das funktioniert, wenn man es einmal richtig beherrscht hat. Mit diesen Methoden greift man direkt auf Langzeitgedächtnisareale zu. Ich merke mir Inhalte gleich für Tage und nicht nur für Minuten. Nicht zwingend auf Dauer, denn es muss wiederholt werden. Aber auch das kann ich steuern. Zahlenfolgen bei Meisterschaften etwa weiß ich Tage später noch, auch wenn ich nicht mehr daran gedacht habe. Und wenn ich wollte, könnte ich sie auch für immer behalten.

derStandard.at: Wie profitieren Sie im Alltag von Ihrem Gedächtnis?

Konrad: Da ich es ja zu meinem Beruf gemacht habe, vermischt es sich ziemlich. Im Studium fand ich es beim Lernen unglaublich hilfreich oder im Beruf, wenn ich viele neue Kollegen kennenlerne und mir deren Namen und Forschungsgebiete merke. Oder ich kann einfach Gedanken und Ideen behalten, die mir beim Joggen, im Auto oder unter der Dusche in den Sinn kommen.

derStandard.at: Einkauflisten müssen Sie auch keine mehr schreiben, oder?

Konrad: Nein, das ist so selbstverständlich, dass es mir gar nicht mehr als Vorteil auffällt (lacht).

derStandard.at: Auch nicht, wenn es 30 verschiedene Produkte sind?

Konrad: Bei Turnieren gibt es Listen mit Wörtern. So ähnlich wie bei Einkauflisten sollte man sich die merken. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 300 Wörtern, den möchte ich bald angreifen. So gesehen sind die 30 kein Problem.

derStandard.at: Ist so ein Gedächtnis auch eine Belastung? Würden Sie nicht gerne mehr vergessen?

Konrad: Nein, überhaupt nicht, weil ich es ja steuern kann und sogar muss. Ich mache das jetzt seit zehn Jahren. Es scheint keinen Automatismus zu geben, ich muss es bewusst anwenden. Anders als Jill Price passiert es mir nicht, dass ich etwas sehe und mir merken "muss". Auch ein Autokennzeichen wandle ich nicht automatisch in ein Bild um, nur weil dort Ziffern stehen. Auch das Abrufen ist bei mir ein bewusster Effekt. Das heißt, es kommen keine Erinnerungen hoch, die ich nicht haben möchte.

derStandard.at: Gedächtnis ist keine Frage von Intelligenz, schreiben Sie. Wirklich nicht?

Konrad: Hier muss man differenzieren. Sehr wohl von Intelligenz abhängig ist das Kurzzeitgedächtnis, das korreliert mit dem IQ. Beim Langzeitgedächtnis scheint es den Studien zufolge wiederum keinen wesentlichen Zusammenhang zu geben. Unterschiede gibt es jedoch bei der Aufnahmegeschwindigkeit. Unter Gedächtnissportlern findet man überwiegend überdurchschnittlich intelligente Leute, das kann allerdings auch mit dem Trainingseffekt zusammenhängen.

derStandard.at: Sie leben von Ihrem Gehirn und Ihrem Gedächtnis. Macht Ihnen das Thema Demenz Angst?

Konrad: Angst ist das falsche Wort. Aus vielen Studien geht hervor, dass Gedächtnistraining die beste Prävention ist. Ich weiß, dass ich alles tun kann, um die Gefahr zu reduzieren, daran zu erkranken. Dennoch ist und bleibt es eine Krankheit, das darf man nicht vergessen. In meiner Familie gibt es bisher keine Erkrankungen an Demenz, deswegen beunruhigt mich das Thema jetzt nicht so sehr.

derStandard.at: Wie lange würden Sie brauchen, um dieses Interview wortwörtlich wiedergeben zu können?

Konrad: Generell ist Text lernen eine sehr schwierige Aufgabe. Es kommt auf die Anzahl der Wörter an. Für eine A4-Seite im Word mit etwa 300 Wörtern würde es rund 15 Minuten dauern. (Oliver Mark, derStandard.at, 29.11.2013)