Gerade zum Wochenende, als weltweit Erinnerungen, Analysen, Reportagen und Interviews in Zeitungen und Fernsehsendungen den Mythos John F. Kennedy, fünfzig Jahre nach seinem Tod, behandelten, erschien im Londoner Wochenblatt The Economist ein vernichtendes Urteil über den gegenwärtigen, den 44. (und ersten schwarzen) US-Präsidenten Barack Obama. Auf dem Titelblatt der vielleicht einflussreichsten Wochenzeitung im englischen Sprachraum wurde Obama im Wasser bis zum Hals im dunklen Anzug mit roter Krawatte als "Der Mann, der über Wasser ging" abgebildet.

Kann der 52-jährige, 2012 für eine zweite Amtsperiode gewählte Präsident das Vertrauen der Menschen noch zurückgewinnen? Was sind die Gründe für den so rapiden Verfall der Autorität und des Ansehens des Friedensnobelpreisträgers, der für viele Menschen als Symbol des Aufbruchs galt?

Mit 50 Millionen Amerikanern ohne Krankenversicherung galt Obamas groß angekündigte Gesundheitsreform als das eigentliche Reformkernstück seiner Präsidentschaft. Das Onlinekrankenversicherungssystem werde so einfach sein, sagte Obama Ende September, wie die Bestellung eines TV-Geräts über Amazon. Die Website des ganzen Systems ohne gründliche Vorbereitungen und Testperioden brach schnell zusammen. Laut den letzten Umfragen sind 57 Prozent der Amerikaner gegen das sogenannte "Obamacare" -System, rund 55 Prozent missbilligen bereits seine Amtsführung und nur 42 Prozent sind für ihn. Nach seinen zahlreichen Versprechungen sind Millionen nicht nur enttäuscht, sondern wütend über die chaotischen Zustände im Versicherungswesen und bezweifeln Obamas Ehrlichkeit. Auf die Frage, ob Barack Obama ehrlich und vertrauenswürdig sei, antworteten in einer Umfrage von Washington Post / ABC News fast 60 Prozent mit "Nein" und nur knapp mehr als 40 Prozent mit "Ja". Im Jahr 2010 war es umgekehrt: nur 20 Prozent zweifelten, fast 80 Prozent waren von seiner Ehrlichkeit überzeugt.

Ob es Obamas Mannschaft noch gelingen wird, das Ruder in dieser innenpolitischen Kernfrage herumzuwerfen, bleibt offen. Aber auch in der Außenpolitik liegt vieles im Argen. Bereits vor dem Spionageskandal haben viele den Präsidenten der Schönfärberei und der mangelnden Aufrichtigkeit bezichtigt. Auch seine leeren Beteuerungen über die "rote Linie" bezüglich des Einsetzens von chemischen Waffen in Syrien hat man nicht vergessen. Dazu kommt das fehlende persönliche Verhältnis zu den maßgeblichen Politikern befreundeter Staaten.

John F. Kennedy, der nach nur 1000 Tagen Amtszeit ermordet wurde, werfen heute manche Beobachter auch viele Versäumnisse und Fehler vor. Trotzdem wird er auch heute noch immer mehr bewundert und geliebt als jeder Politiker vor oder nach ihm. Warum? Er hatte nicht nur Charisma. Kennedy begriff immer wieder auch, was inspirierende Führung einer Weltmacht bedeutet, und er war bereit und fähig, diese begeisternde Eigenschaft in großen Fragen einzusetzen. Durch das Attentat wurden freilich Kennedy jene Enttäuschungen erspart, die fast alle Reformer ereilen. Obama, einst auch Hoffnungsträger des Aufbruchs, wird dagegen bereits jetzt als ein schwankender, introvertierter und schwacher Präsident angesehen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 26.11.2013)