Mittlerweile über zweieinhalb Jahre ist es her, dass der Sicherheitsrat im Zuge des Konflikts in Libyen die Anwendung militärischer Gewalt zum Schutze der Zivilbevölkerung autorisierte. Ein historischer Schritt, nie zuvor hatte er ohne Einverständnis derart stark in einen Bürgerkrieg eingegriffen. In der Kongo-Krise der 1960er Jahre war der Autorisierung militärischer Gewalt noch ein entsprechendes Gesuch der damaligen Regierung vorausgegangen, in Somalia 1992 hatte sich diese Frage aufgrund des Fehlens einer effektiven Zentralgewalt gar nicht erst gestellt.

Die auf dieser Grundlage ergangene monatelang andauernde NATO-Operation ("Operation Unified Protector") galt offiziell als voller Erfolg: der US-Gesandte bei der NATO und der damalige NATO-Oberbefehlshaber sprachen in einem Foreign Affairs Artikel davon, dass zehntausende Menschenleben vor dem sicheren Tod gerettet wurden, die Kollateralschäden (welch ein Unwort) sich aufgrund der noch nie dagewesenen Präzision der Luftangriffe auf ein Minimum beschränkt hatten und es der Opposition ermöglicht wurde, einen der am längsten herrschenden Diktatoren der Welt zu stürzen – wobei die finanziellen Kosten einen Bruchteil früherer Interventionen ausmachten und kein einziger NATO-Soldat ums Leben gekommen war.

Die jüngsten Vorfälle in Tripolis, die 43 Tote und über 450 Verletzte zur Folge hatten, werfen jedoch einmal mehr die Frage auf, ob derartig positive Einschätzungen auch langfristig haltbar sind.

Das Veto zur Syrienfrage

Die Euphorie hatte bereits im Oktober 2011 einen frühen Dämpfer erhalten, als der erste Versuch einer Resolution zum Konflikt in Syrien am russisch-chinesischen Doppelveto scheiterte. Russland und China kritisierten die NATO-Mitgliedsstaaten vor allem dafür, die Libyen-Resolutionen missbraucht und verletzt zu haben um unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevölkerung einen Regimewechsel herbeizuführen. Derartiges solle sich in Syrien nicht wiederholen, der Sicherheitsrat könne der NATO nicht erlauben, sich zu einer Art Weltgericht zu erklären. Ungeachtet des russisch-syrischen Naheverhältnisses und der ungeklärten Frage, ob beiden Staaten nicht von Anfang an bewusst war, dass die Libyen-Resolutionen auf einen Regimewechsel hinauslaufen würden, war Operation Unified Protector der Kooperation im Sicherheitsrat zum Thema Syrien somit wenig förderlich; jedenfalls bot sie Russland und China eine willkommene Gelegenheit, sich als Sprachrohr für jene Staaten darzustellen, die in der NATO spätestens seit dem Kosovo-Einsatz ein imperialistisches Machtbündnis im humanitären Schafspelz sehen.

Von Libyen nach Mali

Ein weiterer Dämpfer erfolgte Anfang 2012, als hunderte aus Mali stammende Tuareg, die im Bürgerkrieg als Söldner für Gaddafi gekämpft hatten, mit modernen libyschen Waffen im Gepäck heimkehrten und gemeinsam mit islamistischen Gruppierungen die Armee im Norden des Landes schlugen. Es folgte ein Militärputsch am malischen Präsidenten, die Regierung wurde ihres Amtes enthoben und die Verfassung suspendiert. Die Tuareg selbst wurden wiederum von ihren ehemaligen Verbündeten vertrieben und im November 2012 waren 2/3 des Landes und die libyschen Waffen in den Händen radikaler Islamisten. Die Folgen für die Bevölkerung waren enorm, der UN-Generalsekretär berichtete von schweren Menschenrechtsverstößen wie Folter, Kindersoldaten, systematischen Gruppenvergewaltigungen und der strengen Anwendung der Scharia; das UN-Flüchtlingskommissariat sprach von 412 000 Flüchtlingen.

Im Jänner 2013 folgte auf Einladung der malischen Regierung eine (relativ erfolgreiche) französische Intervention, nicht zuletzt, um die von Frankreich im nahen Niger betriebenen Uranminen zu schützen. Seit April 2013 sind UN-Friedenstruppen in Mali stationiert, die Region, allen voran das benachbarte Niger, bleibt jedoch instabil – erst Anfang dieses Monats starben bei einem Selbstmordanschlag zwei Blauhelme, sechs weitere wurden verletzt.

Die Macht der libyschen Milizen

Libyen selbst ist seit dem Sturz Gaddafis kein friedlicher Ort. Seit Ende des Bürgerkriegs nehmen die Revolutionsgruppen das Recht in ihre eigene Hand und widersetzen sich erfolgreich gegen ihre Entwaffnung und die Eingliederung in den Sicherheitsapparat der Regierung. 2012 gab es zahlreiche gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Stämmen und ethnischen Gruppen, 90 000 Menschen wurden vertrieben, alleine 60 000 im Zuge des Konflikts in Bani Walid. Auch 2013 riss die Gewalt nicht ab. Im Juni etwa wurden in Bengasi im Zuge von Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Milizen 30 Menschen getötet und in Tripolis kam es aufgrund anhaltender Streitigkeiten über die Vergabe der lukrativen Rechte, die Ölanlagen zu sichern, zu Kämpfen innerhalb der bewaffneten Gruppen; im August gingen die Ölexporte um 70% zurück als die Häfen geschlossen wurden. Im selben Monat kam es in Bengasi zu gezielten Tötungen, in Sebha starben bei einem Angriff auf eine Polizeistation 11 Polizisten. Erst im Oktober forderten Angriffe auf die russische Botschaft zwei Menschenleben, auch das schwedisch-finnische Konsulat wurde Ziel einer Autobombe, während 16 Soldaten bei einem Checkpoint getötet wurden, mindestens zehn Sicherheitsbeamte wiederum in Bengasi. Die Ausschreitungen vom letzten Freitag reihen sich somit nahtlos in eine seit je her bestehende Welle der Gewalt ein.

Erfolg ist relativ

Die oben genannten Folgen lassen sich gewiss nicht allein auf das Ende des Gaddafi-Regimes reduzieren. Die Situation im Norden Malis ist bereits seit der Unabhängigkeit des Landes angespannt und der Sicherheitsrat hätte sich zum Konflikt in Syrien angesichts der divergierenden geostrategischen Interessen der Vetomächte auch ohne den NATO-Einsatz in Libyen kaum geeinigt. Und in Libyen selbst ist offen, wie es um die Situation nach einem Sieg Gaddafis bestellt wäre, bzw. wie lange der Konflikt sich noch hingezogen hätte. Kritikern wird obendrein zu bedenken gegeben, dass man sich nach über 40 Jahren Diktatur keinen friedvollen und reibungslosen Übergang zu einer geordneten Demokratie erwarten dürfe.

Dennoch ist die überschwänglich-positive Beurteilung des NATO-Einsatzes heute nicht mehr haltbar, die profunden Auswirkungen in- und außerhalb Libyens stehen außer Streit. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass die Konsequenzen ausländischer Interventionen, insbesondere von Regimewechseln, nicht absehbar sind. Dies sei all jenen ins Stammbuch geschrieben, die vehement für Militärschläge in Syrien eintreten. (Leserkommentar, Ralph Janik, derStandard.at, 25.11.2013)