Von der Verbannung des Wienflusses bis zum Bau der tiefsten U-Bahn-Station der Stadt, von einem nie realisierten Prunkmusuem Otto Wagners bis zur Hollywood-Verfolgungsjagd, vom kaiserlichen Gelübde bis zum Drogenumschlagplatz – viele mehr und weniger bekannte Fakten erzählen von der ereignisreichen Geschichte des Karlsplatzes. Der übrigens nach keinem Kaiser und noch weniger nach einem Politiker benannt wurde.

Der Karlsplatz in Wien: Eine Zeitreise in Bildern (und ein paar Videos).

Der Wienfluss zieht die Menschen schon vor Jahrtausenden an. Auch an der Stelle des heutigen Karlsplatzes siedeln sie in der Aulandschaft des verästelten Rinnsals. Bereits zur Zeit des Römerlagers Vindobona kreuzen sich hier zwei Fernstraßen, und eine Holzbrücke wird im Mittelalter zum ersten Mal erwähnt.

Die eine Straße, "Strata Carinthianorum", heißt noch immer Kärntner Straße. Damals führt sie durch das "Carnter Tor" in die Stadt, das als Teil der Wehranlage bei Gefahr geschlossen werden kann. Stadt ist verglichen mit heute schon fast zu viel gesagt: Jahrhundertelang beschränkt sich Wien auf die Grenzen des ersten Bezirks. Das Gebiet des Karlsplatzes liegt schon außerhalb, im 1137 erstmals dokumenierten Vorort Wieden.

Es ist dabei keineswegs so, dass die Bewohner der Einzugsgebiete bei Angriffen ihrem Schicksal überlassen werden. Sie finden Asyl in der Stadt, das Tor wird hinter ihnen verschlossen – so auch beim Angriff der Türken, die bei der ersten Belagerung 1529 ihre Eliteeinheit der Janitscharen hier südlich der Stadt stationieren.


Im Bild: Blick nach Süden – eine Interpretation, wie die Gegend des heutigen Karlsplatzes im Mittelalter ausgesehen haben könnte; erstellt anlässlich der Ausstellung "Am Puls der Stadt – 2000 Jahre Karlsplatz" von Wien Museum / 7reasons

Grafik: Wien Museum

Auf konsequente Rechtschreibnormen hatte man sich im Mittelalter noch nicht geeinigt. Als die Holzbrücke im 13. Jahrhundert durch eine "Stainerne Prugken" ersetzt wird, heißt das "Carnter Tor" auf Karten und Holzstichen wahlweise auch "Chernertor", "Khärnner Tor" oder "Kerner Tor". Und das sind weit nicht alle Schreibweisen.

Fast noch beständiger ist über die Jahrhunderte das Aussehen des Areals vor der Pforte: Jenseits der bald verstärkten Stadtmauer erstrecken sich ein freier Grünstreifen – das Glacis –, der Fluss, der die Stadt in einem charakteristischen Knie umfließt, dann größere Gehöfte und kleinere Siedlungen, dazwischen Felder und Rebstöcke.


Im Bild: In der Josephinischen Landesaufnahme (1770er Jahre) ist die Brücke genau in der Bildmitte zu sehen.

Foto: Josephinische Landesaufnahme/Wikimedia

In der Frühen Neuzeit wütet die Pest in Wien. Im Oktober 1713, während der letzten großen Epidemie, gelobt der Kaiser, sich mit einer Kirche zu wehren. Im Februar 1714 ist der Schwarze Tod verschwunden. Muss nicht unbedingt ein Gottesbeweis sein.

Johann Bernhard Fischer von Erlach setzt sich beim Architektenwettbewerb durch. In seinem Vorschlag orientiert er sich an der Istanbuler Hagia Sophia und platziert zwei der römischen Trajanssäule nachempfundene Pfeiler an die Vorderflanken des Kuppelbaus. Der Grundstein für die Kirche wird 1716 gelegt, nach Fischers Tod im Jahr 1723 vollendet sein Sohn Joseph Emanuel das Werk. Am 28. Oktober 1737 weiht sie der Wiener Erzbischof Kardinal Sigismund Graf Kollowitz ein.

Dass es sich um ein barockes Bauwerk handelt, wissen die Menschen freilich noch nicht. Der Begriff etabliert sich erst 150 Jahre später. Die Kirche ist in einer direkten Linie zwischen Lustschloss Favorita und Hofburg angelegt: So blickt sie geradewegs auf den kaiserlichen Sitz, steht aber noch fast verloren auf der nördlichen Wieden. Doch nach und nach wachsen neben ihr die ersten außerhalb der Stadt gelegenen Palais in die Höhe.


Im Bild: Blick von Süden auf die Karlskirche, den Stephansdom und die Wiener Berge.

Update: Wie einige User hinweisen, nutzte das Bürgerspital – das sich zwischen Lobkowitzplatz und Kärntner Straße noch innerhalb der Stadtmauern befand – zu dieser Zeit einen Teil des Karlsplatzes als Gottesacker. 1741 wurde hier Antonio Vivaldi begraben.

Abbildung: Bernardo Bellotto/KHM/Wikimedia

Der Kaiser hinter der Idee einer Votivkirche heißt Karl VI. Ganz sind wir damit aber noch nicht beim Namenspatron des Bauwerks und des späteren Platzes. Weil es die Katholische Kirche Stiftern nicht gestattet, Gotteshäuser nach sich selbst zu benennen, nimmt der Vater Maria Theresias einen kleinen Umweg und benennt es ungezwungen nach seinem eigenen Patron, dem Pestheiligen Karl Borromäus.

Ins 18. Jahrhundert fallen nach größeren Hochwassern auch erste ernsthafte Pläne für eine Wienfluss-Regulierung. Weil wir uns aber auch damals schon in Österreich befinden, liegt eine österreichische Lösung nahe: Der Flusslauf bleibt wie gehabt, allerdings lässt man das Bett ein bisschen ausheben und pflanzt am Ufer Weiden und Akazien.

Anfang des 19. Jahrhunderts erhält die Karlskirche im Westen ein imposantes Haus zum Nachbarn: Nach nur zwei Jahren Bauzeit sitzen 1818 erstmals Studenten im Hauptgebäude des "k.k. Polytechnischen Instituts", der heutigen Technischen Universität.


Im Bild: Ziegen grasen 1822 am Nordufer der Wien, rechts sieht man das neu errichtete Hauptgebäude des Polytechnischen Instituts. Dass die Umgebung des Karlsplatzes zu dieser Zeit bereits sehr viel stärker bebaut war, als es Ausschnitt und Stil des Stichs nahelegen, zeigen dieses Aquarell und diese undatierte Postkarte aus der Zeit Franz Schuberts (1797-1828). Der Komponist lebte einige Zeit im nördlich an die Karlskirche angrenzenden Haus. (Danke an User lesen büldet für den Hinweis)

Abbildung: J. F. Wizzoni (Public Domain)

Nach einer Konkurrenz im Jahr 1847 entsteht die Elisabethbrücke. Sie ist Sisi gewidmet, die bei der Eröffnung am 24. April 1854 mit ihrem Verlobten Kaiser Franz Joseph I. und einer riesigen Entourage über den Nachfolgebau der "stainernen Prugken" in die Stadt einzieht. Ziel der Parade ist die Augustinerkirche, in der das kaiserliche Paar vermählt wird.

Die "Allgemeine Bauzeitung" berichtet: "Die neue Brücke wurde etwas abweichend von der Richtung der alten so gestellt, daß ihre Längenachse in die Mitte der Kärnthnerstraße mit Rücksicht auf den Umbau des Kärnthnerthors, und in die Mitte des Anfanges der Straße der Vorstadt Wieden zu liegen kam. Diese Situazion ist aus Bequemlichkeits- und Schönheitsrücksichten bedingt gewesen [...]"

Zwischen Ausschreibung und Freigabe der Brücke fällt nicht nur die Krönung Franz Josephs, sondern auch ein weitreichender Beschluss der Stadtverwaltung: Weil die Vororte immer stärker zum Stadtgebiet hin wachsen, werden sie ab 1850 eingemeindet. Wieden wird mit dem größten Teil des Karlsplatzes zum 4. Bezirk, auch die frühere Stadt Wien hat nunmehr als 1. Bezirk mit einem schmalen Streifen nördlich des Flussufers Anteil am Platz.


Eine zeitgenössische Zeichnung des majestätischen Einzugs über die Elisabethbrücke mit Karlskirche und Polytechnischem Institut im Hintergrund finden Sie hier.

Abbildung:

Noch ist die Innere Stadt eine Bastion. Oder gibt sich zumindest so. Die Stadtmauern existieren weiterhin, widersprechen aber der Idee der Eingemeindungen. Außerdem erfüllte die Befestigung ihren militärischen Zweck bereits 1805 nicht mehr, als Vienne bedingungslos an Napoleon übergeben wurde. Die Mauern werden ab 1858 geschleift, der Stadtgraben gefüllt.

Inklusive des ehemaligen Glacis entsteht einerseits Platz für die Ringstraße, andererseits lukrativer neuer Baugrund in Zentrumsnähe. Die Erlöse aus dem Verkauf der Grundstücke speisen den eigens dafür geschaffenen und noch heute aktiven Stadterweiterungsfonds. Aus diesen Mitteln werden erst die Monumentalbauten an der Ringstraße finanzierbar: Parlament und Rathaus, Burgtheater und Staatsoper, Börse und Kursalon, Universität und Neue Burg, Kunst- und Naturhistorisches Museum – sie alle entstehen in den 1860er- und 1870er-Jahren.


Im Bild: Kärntner Tor, Stadtmauer und -graben auf einem der letzten Fotos vor der 1857 erlassenen Demontage der Befestigung.

Foto: Wien. Seit 60 Jahren. Ein Album für die Jugend." Gerlach & Wiedling, Buch- und Kunstverlag, Wien 1908/Wikimedia

Ein Bild mit Seltenheitswert: Es handelt sich nicht nur um ein einzigartiges fotografiegeschichtliches Dokument – im August 1860, noch in der Frühzeit des Mediums, hievt ein Fotograf der k. k. Hof- und Staatsdruckerei mit seinen Gehilfen eine monströse Kamera und zwölf große Glasplatten auf das Turmdach des Stephansdoms, um ein Panorama der Stadt aufzunehmen.

Die Fotografien entstehen außerdem in der kurzen Zeit zwischen der Schleifung der Stadtmauer ab dem Jahr 1858 und der Eröffnung der Ringstraße im Jahr 1865. Ein breiter Grüngürtel wickelt sich in diesen Jahren um die Innenstadt – davon übrig geblieben sind heute nur der Stadtpark und die zersprengten Rasenflächen vom Burggarten bis zum Rathausplatz.


Mehr der Aufnahmen finden Sie in der Ansichtssache "Als Böhmen noch bei Öst'reich war: Blick vom Stephansturm anno 1860". Informationen über die von Walter Öhlinger herausgegebene Publikation "Rundblick vom Stephansturm", in der die Bilder erschienen sind, finden Sie unter edition-wh.at.

Abbildung: verlag winkler-hermaden/österr. staatsdruckerei

Schon bald wird das Grün bebaut, Immobilieninvestoren und private Bauträger setzen der Karlskirche eine neue Häuserfront vor die Nase. Eine gemeinsame architektonische Sprache finden sie dabei nicht. August Weber entwirft für die "Gesellschaft bildender Künstler Österreichs" das Künstlerhaus im Stil der Neorenaissance, Theophil Hansen hält sich beim Nachbargebäude, dem Musikverein, an seinen klassizistischen Stil. Daneben werden die erste Handelsakademie im deutschsprachigen Raum und schnöde Zinskansernen hochgezogen.

Hansen, der Architekt des Parlaments, verewigt sich auch gegenüber: Neben dem Polytechnischen Institut entsteht die Evangelische Schule. Der Vorplatz, den sich beide Gebäude teilen, wird 1862 neu gestaltet – mit dem Resselpark, in dem ab 1873 ein Beisl betrieben wird, entsteht der Kern des Karlsplatzes.


Im Bild: Ein Rendering des Karlsplatzes "zur Ringstraßenzeit"; erstellt anlässlich der Ausstellung "Am Puls der Stadt – 2000 Jahre Karlsplatz" von Wien Museum / 7reasons

Grafik: Wien Museum

Wer zu dieser Zeit am Anfang der Wiedner Hauptstraße steht und Richtung Stephansplatz schaut, wird linkerhand einen Obstmarkt bemerken. Der Vorgänger des Naschmarkts hat sich bereits seit längerem vor dem fürstlich Starhembergischen Freyhaus etabliert – es ist kein Herrschaftsgebäude, sondern ein riesiger Wohnkomplex, der am Standort des heutigen TU-Freihauses beginnt. Der Markt wächst von dort beständig sowohl auf den Karlsplatz als auch die Wieden hinauf. In dem Bezirk leben damals fast doppelt so viele Menschen wie heute.

Am 17. Juni 1877 eröffnet die Wiener Tramwaygesellschaft eine Straßenbahnstrecke zwischen Kärntner Straße und Preßgasse. Die Pferde halten auch an der Station Elisabethbrücke.


Wie dieses Bild zeigt, erstreckte sich das alte Freihaus in seiner größten Ausdehnung bis zur Schleifmühlgasse.


Foto: Wilhelm Burger/Ueberreuter/Wikimedia

Stärker noch als die 1860er mit dem Abriss der Stadtmauer und ihrem Bauboom sollten die 1890er Jahre das Gesicht des Karlsplatzes prägen. Und ihm auch seinen Namen geben: Offiziell heißt er erst ab 1899 so.

Dem Hauptgebäude des Polytechnischen Instituts wird bis 1898 eine dritte Etage aufgesetzt. Folgenschwerer ist aber der Entschluss, die Wien nach schweren Hochwassern erst zu kanalisieren und dann einzuwölben. Der Fluss wird zwischen Rüdigerhof und Kursalon Hübner aus dem Stadtbild verbannt. Mit dem Plateau, das über den Tunnel gespannt wird, wächst sich der Karlsplatz zu seinen heutigen Dimensionen aus.

Foto: Unbekannt/Wikimedia (Public Domain)

Das von den Architekten Friedrich Ohmann und Josef Hackhofer geleitete Flussversteckspiel dauert von 1894 bis 1900. Seither fließt die Wien erst ab dem Stadtpark als Element der Landschaftsgestaltung wieder an der Frischluft durch die Stadt. Unter dem Karlsplatz ist sie aber noch heute der Grenzfluss zwischen den Bezirken Wieden und Innere Stadt.

Abbildung: Unbekannt/Wikimedia (Public Domain)

Mit der Einwölbung verliert auch die Elisabethbrücke ihre Daseinsberechtigung. Sie wird 1897 gesperrt und mit den acht Marmorfiguren an ihren Geländern abgetragen.

Die Skulpturen wandern aber nur wenige Meter weiter – dorthin, wo zeitgleich ein anderes Großprojekt gestemmt wird: 1899 fährt erstmals die Stadtbahn über die Wientallinie zwischen Hütteldorf und Hauptzollamt (heute Wien-Mitte). Die jahrelangen Forderungen nach einem adäquaten Massentransportmittel für Wien – seit den 1870ern schließlich Millionenstadt – werden mit dem U- Bahn-Vorgänger erhört.

Abbildung: Unbekannt/Wikimedia (Public Domain)

Die noch dampfbetriebene Stadtbahn hält am 30. Juni 1899 erstmals in der Station "Akademiestraße" vor dem Künstlerhaus. Otto Wagner entwirft ein Ensemble zweier sich gegenüberstehender Stationsgebäude, die er – anders als seine übrigen Stadtbahnhaltestellen – mit Marmorplatten und einem gebogenen Dach versieht. Es ist Wagners Tribut an die Karlskirche, das seiner Meinung nach "schönste Gebäude Wiens".

Seine Pavillons blicken hinab zu den nach oben offenen Bahnsteigen – offen deshalb, damit sich der Dampf mit seinen Rückständen bei Stationsaufenthalten nicht im Tunnel sammeln kann. Die Skulpturen der Elisabethbrücke bekommen dennoch mehr Ruß ab, als ihnen gut tut. Die im Volksmund so genannten "acht Rauchfangkehrer" werden 1902 auf den Rathausplatz übersiedelt. Dort verbringen sie noch heute ihre Tage.

Abbildung: Otto Wagner/Bundesdenkmalamt/Wikimedia/Hubertl

Am Karlsplatz selbst würde sich Otto Wagner zur Jahrhundertwende gerne noch weiter verwirklichen. Zwischen ihm und einigen der großen Architekten seiner Zeit entbrennt ein öffentlich ausgetragener Streit um die Neugestaltung des Platzes.

Im Mittelpunkt der Pläne Wagners stehen ein Brunnen, ein Hotel und mehrere prunkvolle Varianten für das "Kaiser-Franz-Josef-Stadtmuseum" an der Stelle des heutigen Wien Museums. Obwohl bereits vom Gemeinderat beschlossen, wird keines der Vorhaben realisiert. Auch keine wirkliche Genugtuung: Die Pläne von Josef Stübben, Friedrich Schachner und seinen anderen Konkurrenten bleiben ebenso in der Schublade. Otto Wagner spricht der Stadtplanung jeglichen Gestaltungswillen ab: "Der Karlsplatz ist kein Platz, sondern eine Gegend."

Abbildung: Otto Wagner/Wien Museum/Wikimedia

Während die honorigen Herren Architekten mit dem Karlsplatz hadern, hinterlässt der 30-jährige Joseph Maria Olbrich mit dem Ausstellungsgebäude der Secession eines der bedeutendsten Jugendstilgebäude Wiens.

Das 1898 fertiggestellte "Krauthäuptel" unmittelbar westlich des Karlsplatzes sollte ursprünglich über eine direkte Allee mit der Karlskirche verbunden werden. Dazu kommt es nicht. Wie so oft in seiner Geschichte werden Ausschreibungen und Wettbewerbe zur Umgestaltung des Platzes nicht umgesetzt – er wirkt weiterhin unharmonisch und bleibt Stückwerk. Zur Verbesserung tragen auch etliche in den Folgejahren aufgestellte Denkmäler – etwa zu Ehren Johannes Brahms' und Josef Maderspergers – und Skulpturen verschiedener Formen und Stile nicht bei.


Im Bild: Die neu errichtete Secession im Jahr 1898 während der Eintunnelung der Wien.

Foto: Friedrich Strauß/Wikimedia

Im Jahr 1900 sind die Arbeiten vorerst abgeschlossen. Ab 1902 wird der Naschmarkt in Etappen an seinen jetzigen Standort über der Wien verlegt, und bald fahren die ersten elektrisch betriebenen Straßenbahnzüge über den Karlsplatz. Zwischen Pferdegespannen und "der Elektrischen" lag in Wien eine Dampftramwayära von nicht einmal zwanzig Jahren.


Dieses Bild zeigt den Blick von Norden auf den "neuen" Karlsplatz mit Wagners neu eröffneten Stadtbahnpavillons.

Foto: Photoglob AG, Zürich, Switzerland or Detroit Publishing Company, Detroit, Michigan/Wikimedia

Verglichen mit anderen Gegenden und anderen Städten ziehen die Weltkriege am Karlsplatz relativ glimpflich vorüber. Neben dem bitteren Verlust der Evangelischen Schule im Zweiten Weltkrieg entstehen an der Substanz der restlichen Gebäude nur leichte Schäden. Die Schule wird wiederaufgebaut und 15 Jahre nach Kriegsende eröffnet.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird der öffentliche Verkehr massiv erweitert. Nun halten die Tramwaywagen der Linien E2, G2, H2, 62, 65, 66, 167 und Badner Bahn am Karlsplatz. An seinem östlichen Zipfel, direkt gegenüber der Secession, lässt das Österreichische Verkehrsbüro 1922 auf einer Restparzelle seine Unternehmenszentrale errichten und beaufsichtigt von dort aus das Fahrscheinsystem der Staatsbahnen. 1925 wird auch die Stadtbahn elektrifiziert.


Im Bild: Blick Richtung Süden auf das Polytechnische Institut und die Evangelische Schule im Jahr 1922. Die Gemeinde Wien stellt interaktive, historische Stadtpläne zur Verfügung, zum Beispiel mit allen 1946 erhobenen Sachschäden des Zweiten Weltkriegs. Wahlweise lassen sich auch die Generalstadtpläne von 1904 und 1912 oder der Franziszeische Kataster (1817-1829) einblenden.

Foto: Wiener Linien

Im Nachkriegswien dreht Carol Reed 1949 den Film "The Third Man". Der Spionagethriller mit Joseph Cotten und Orson Welles in den Hauptrollen wird unter anderem im Kanalsystem unter dem Karlsplatz aufgenommen.

Später sollten hier unten auch Szenen einer "Kommissar Rex"-Folge und von Falcos Skandalvideo "Jeanny" gedreht werden. Das ist aber weniger der Grund, warum Touristen heute in die Wiener Kanalisation hinabsteigen wollen – für sie hat die Gemeinde deshalb an der Operngasse auch eine "Dritte Mann"-Tour eingerichtet und keine Falco- oder "Kommissar Rex"-Tour.


Foto: Atlas Film (Public Domain/Wikimedia Commons/Wdwdbot)

Auf gewisse Weise hatten die beiden Weltkriege doch Auswirkungen auf das Aussehen des Karlsplatzes. Der Bau des schon von Otto Wagner geplanten Stadtmuseums nördlich der Kirche wurde wegen der Kriege jahrzehntelang verschoben. In den 1950ern wird wieder fröhlich geplant.

Unter den 96 Einreichungen schafft es der reduziert-moderne Entwurf Oswald Haerdtls zwar nicht in die Top drei der Jury. 1954 wird dennoch der Grundstein für die Umsetzung seiner Pläne für das Wien Museum gelegt.

Foto: © Wien Museum

Es ist der erste Museumsneubau der Zweiten Republik, den Bundespräsident Adolf Schärf am 23. April 1959 eröffnet, und sollte bis in die 1990er Jahre der letzte bleiben. Die Premierenausstellung ist Hieronymus Löschenkohl gewidmet, der Eintrittspreis beträgt fünf Schilling. Seit 1961 wird im Wien Museum in einer ständigen Schau auch die Geschichte der Bundeshauptstadt gezeigt.

Foto: © Wien Museum

Umsäumt von Gebäuden aus mehreren Jahrhunderten und Stilen, ist der Karlsplatz in den 1960ern als Durchzugsort auch verkehrstechnisch zerklüftet: Der Länge nach zerschneidet ihn die Zweierlinie, also jene Straßenbahntrasse, die von der Landesgerichtsstraße bis zum Stadtpark immer in einer Entfernung von 200 bis 400 Metern parallel zur Ringstraße verläuft.

Die Achse Kärntner Straße und Wiedner Hauptstraße teilt den Karlsplatz wiederum in einen kleinen West- und einen dreifach größeren Ostteil. Die daraus entstandenen Verkehrsinseln nennen die Stadtplaner euphemistisch Parks. Esperanto- und Girardipark haben allerdings nicht einmal Sitzgelegenheiten.

Der Wiener Theaterkritiker Hans Weigel soll 1967 dennoch gesagt haben: "Der Karlsplatz ist das eigentliche Herz von Wien."

Grafik: Wien Museum

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Ab November 1971 wird umgerissen: Das U-Bahn-Zeitalter erreicht Wien. Am Karlsplatz beginnt die erste Ausbaustufe: Die U4 entsteht aus der Stadtbahn, die U2 entlastet die Straßenbahnlinien auf der westlichen Ringhälfte, die U1 wird – vorerst nach Süden bis zum Reumannplatz – komplett neu gebaut.

Das Zusammentreffen dreier U-Bahn-Linien ist bis heute einzigartig im Wiener U-Bahn-Netz, und auch der Rekord für die tiefste Station der Stadt wurde der U1-Haltestelle Karlsplatz/Oper nicht wieder streitig gemacht.

Foto: WIENER LINEN

Die "größte Baustelle Europas", über die Straßenbahnen in provisorischer Hochlage fahren, macht den Karlsplatz neuerlich zum Kinoschauplatz. Im 1973 erschienenen Agentenfilm "Scorpio" liefern sich Alain Delon und Burt Lancaster eine Verfolgungsjagd quer durch die eigentlich gesperrte Baugrube.

Foto: jhm0284/Wikimedia [cc;2.0;by-sa]

1978 ist der U-Bahn-Bau im Bereich Karlsplatz weitgehend abgeschlossen, das Loch eingeebnet. Die Architektengruppe Andersson, Brochmann und Brogaard macht sich mit vollem Elan an die Neugestaltung des Platzes. In ihrem Motivenbericht schreiben sie: "Das Problem Karlsplatz wird von Gegensätzen dominiert – ästehtischen, funktionalen und sozialen. In unserem Vorschlag zur Gestaltung haben wir versucht, diese Gegensätze auszugleichen und Balance zu schaffen."

In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Versuch kläglich gescheitert. Der Kurier titelt "Verplant in alle Ewigkeit", und in Wien macht der spöttische Kalauer vom "Chaosplatz" die Runde. Der Architekt Clemens Holzmeister zeigt sich "erschüttert" über das ovale Wasserbecken vor der Karlskirche, in das Henry Moores abstrakte Plastik "Hill Arches" gesetzt wird.

Otto Wagners Pavillons überleben zwar trotz anderslautender Plände den Umbau, werden aber ihres Zwecks beraubt: Sie thronen nicht mehr über den Bahnsteigen der Stadtbahn, sondern über einer Betonfläche. Eine der letzten dem Resselpark gebliebenen Rasenflächen wird gleich dahinter von einer Straßenbahnschleife umschlungen.

Foto: TARS631/Wikimedia

Doch der Kritik nicht genug: Vor der Secession entsteht ein Mastenwald; Georg Lippert, der bereits mit der Idee einer Hochstraße auf Pfeilern quer über den Karlsplatz aufgefallen war, entwirft einen kargen Plattenbau namens Winterthur-Haus, der zwischen Karlskirche und Wien Museum gepfercht wird; die Fußgeher werden durch betonummantelte Öffnungen in unterirdische Grotten geschickt, während oben der Verkehrslärm tobt.

Tatsächlich haben die Autofahrer am wenigsten Grund zur Klage. Wo man achtzig Jahre zuvor noch die Wien plätschern hörte, macht sich jetzt der motorisierte Individualverkehr auf bis zu fünf Spuren pro Richtung den Karlsplatz Untertan.

Foto: TARS631/Wikimedia

Einen Stock tiefer beginnt es bald zu gären: Die weitläufigen Passagen zwischen den U-Bahn-Steigen ziehen ab den 1980er-Jahren nicht nur die lautersten Besucher an. Der Begriff "Karlsplatz" wird österreichweit zum Synonym für den verrufensten Drogenumschlagplatz des Landes.

Die Polizei tut sich bis zuletzt schwer, das "Wohnzimmer" der Szene in den Griff zu bekommen. Die Einrichtung einer überwachten Schutzzone nach dem Sicherheitspolizeigesetz soll das Problem nachhaltig lösen.

Foto: Fischer/Der Standard

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In jüngerer Zeit hat sich das Aussehen des Karlsplatzes nur mäßig gewandelt. An der Mündung der Wiedner Hauptstraße entsteht von 1984 bis 1987 das "Haus mit der Eule", die TU-Bibliothek. Und davor, im Rosa-Mayreder-Park, wird 1992 unter neuerlicher Kritik der gelbe Container der Kunsthalle eingeweiht. Der ursprünglich nur temporär geplante und später zum Glaskubus reduzierte Bau bringe "die Volksseele zum Kochen", schreibt die "Kronen Zeitung".

2006 folgt in der Passage zur Secession die Medieninstallation "Pi". 2007 kauft und renoviert der Glücksspielkonzern Novomatic das ehemalige Verkehrsbürogebäude und richtet zur Imagepolitur ein "Zentrum für Kunst und Kultur" ein.

Um alle kulturellen Aktivitäten am Karlsplatz zu bündeln – mehrere saisonale Märkte, das "Kino unter Sternen" und das Popfest haben sich in den vergangenen Jahren Namen gemacht –, entsteht 2008 das Projekt "Kunstplatz Karlsplatz". Vielleicht haben die Organisatoren der Plattform recht, wenn sie frei nach Otto Wagner sagen: Der Karlsplatz ist (noch immer) mehr Gegend als Platz.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Derzeit befindet sich der Karlsplatz wieder in einer Transformationsphase. Im September wurde die renovierte und umgestaltete U-Bahn-Passage eröffnet. Und erst vorletzte Woche verkündete Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny das Ende des jahrelangen Zerrens um das Wien Museum: Es bleibt am Karlsplatz und erhält in den kommenden Jahren einen Zubau, der auf das sanierte Haerdtl-Haus eingehen soll und dabei weit in den Platz ragen könnte.

Das Museum soll nicht mehr nur die architektonisch zurückgezogene Herberge für die städtischen Sammlungen sein, sondern ein "zweites, offenes Museumsquartier" aus dem Karlsplatz machen, inklusive Veranstaltungen und Gastronomie. Zur Debatte steht auch ein Abriss des Winterthur-Hauses, um ein bisschen Luft zur Kirche hin zu schaffen.

Der Karlsplatz ist nicht das schlüssige Ergebnis einer umsichtigen Raumplanung. Er ist ein über Jahrhunderte organisch gewachsenes Mosaik aus vielen matten und vielen glänzenden Steinchen. Ein urbaner Fleckerlteppich, auf dem man sich doch immer wieder wohlfühlt. Nur den Wienfluss hätte man ihm lassen können: Er zog die Menschen schon vor Jahrtausenden an. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 25.11.2013)


Im Bild: Eine Machbarkeitsstudie über den Ergänzungsbau. Sie zeigt nur die potenziellen Erweiterungsgrenzen und stellt kein Gebäudemodell dar. Das ginge sich schon aus geometrischen Gründen nicht aus.


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Abbildung: Bitmanagement, MA41, MA21