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Foto: Reuters/Reka
"Sie hatte Krebs im Endstadium", erinnert sich Maria LaTrace in der New York Times an eine Patientin, die sie im Hospiz des Beth Israel Medical Center in New York während des Sterbens begleitet hat. "Sie sagte mir", schildert die Krankenschwester, "dass sie nichts mehr essen und trinken wird." Kurz darauf sei sie gestorben.

Die von Maria LaTrace beschriebene Patientin ist nicht die Einzige, die ihrem drohenden Krebstod derart zuvorgekommen ist. Und es werden anscheinend immer mehr.

In der weltweit ersten Studie zu diesem Thema, die im New England Journal of Medicine publiziert wurde, geben 102 von 429 befragten Pflegepersonen von Hospizeinrichtungen in Oregon an, einen oder mehrere Patienten betreut zu haben, die ihr Leben durch Ernährungsverweigerung vorzeitig beendet haben.

Das überraschendste Ergebnis ist aber, dass es sich entgegen der landläufigen Meinung keinesfalls um einen schmerzvollen und grausamen Exitus handle. Im Gegenteil. Alle Zeugen derartiger Lebensverkürzungen sind überzeugt, dass ihre Patienten binnen zweier Wochen nach der Entscheidung "einen guten Tod" gestorben seien - auf einer Skala von null (furchtbar) bis neun (schön) liegt der Durchschnittswert bei acht.

Freie Glückshormone

Warum das so sei, erklärt Timothy Quill, Psychiater an der Uni Rochester: Angesichts des drohenden Endes bäume sich der Organismus noch einmal auf und setze schmerzlindernde und euphorisierende Endorphine frei - dem Morphium ähnliche Substanzen.

Die Veröffentlichung dieser und weiterer Studien zum Thema heizt die Debatte um aktive Sterbehilfe an. Zumal Befürwortern wie Gegnern drastisch vor Augen geführt wird, dass es für Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten aber bar jeglicher mechanischer Möglichkeiten zur Beendigung ihres Lebens doch einen Weg gibt. Aber darf man diesen auch beschreiten?

Ausgehend vom rechtsphilosophischen Standpunkt, der Suizid sei die größte Freiheit des Menschen, und von den gesetzlichen Bestimmungen, dass grundsätzlich keine Behandlung ohne die Einwilligung des Betroffenen erfolgen darf, stellt sich die juristische Frage: Ist Zwangsernährung in einem solchen Fall strafbar?

"Ja", antwortet Christian Kopetzki, Professor für Medizinrecht an der Uni Wien, zumindest in der Theorie. "In der Praxis stößt das Selbstbestimmungsrecht der Patienten öfters an Grenzen. Dort nämlich, wo es im Gegensatz zum Ethos der Mediziner steht."

Prinzipiell dürften Ärzte Behandlungen nur dann ohne Einverständnis der Betroffenen durchführen, "wenn Lebensgefahr besteht und das Einverständnis etwa wegen Bewusstlosigkeit nicht eingeholt werden kann", erklärt Kopetzki. Artikulieren mündige Patienten im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten klipp und klar ihre Entscheidung, keine Nahrung mehr zu sich nehmen zu wollen, dürfe selbst dann nicht zwangsernährt werden, wenn die Patienten ob der tödlichen Diät das Bewusstsein verlieren. Alles andere wäre strafrechtlich verbotene "eigenmächtige Heilbehandlung".

Das Dilemma

Dieser Tatbestand spiele in der heimischen Gerichtspraxis keine Rolle. "Weil es sich um ein so genanntes Privatanklagedelikt handelt", erläutert der Rechtswissenschafter: Der Betroffene muss selbst klagen, die Staatsanwaltschaft tut's nicht. Aber wer - gerade von jenen todkranken Menschen - klagt schon einen heilbehandelnden Gott in Weiß? Eben.

Die Ergebnisse stellen aber nicht nur die Rechtswissenschaften vor eine Herausforderung. Studienleiterin Linda Ganzini, Psychiaterin an der Uni Oregon, beschreibt ihren Gewissenskonflikt mit der ethischen Zulässigkeit der Veröffentlichung: "Es gibt zu viele verletzbare Menschen da draußen, viele mit Depressionen." Sie wisse, dass unzählige Menschen schon lange "auf der Suche nach einem schönen Tod sind". Ermutige die Publikation jene zum Versuch einer vielleicht noch nicht bedachten Alternative?

Ob dieser Gefahr echauffiert sich auch Diane Meier, Direktorin des palliativmedizinischen Instituts an der Mount Sinai Medical School in New York, über die Veröffentlichung der Daten. Ihre Ferndiagnose: Das Gros der Kranken habe an Depressionen gelitten, die meisten Ärzte seien jedoch nicht fähig, diese zu erkennen. Von einer wirklich freien Entscheidung, das Leben vorzeitig zu beenden, könne also keine Rede sein, dies treffe geschätzt auf maximal 0,3 Prozent der Patienten zu.

Quälende Fragen

Auf der anderen Seite, fragt sich Studienleiterin Ganzini weiter: Warum dürften Menschen nicht informiert werden über das Sterben und über entsprechende Tendenzen?

Eine solche beschreibt auch eine Studie, die in The Lancet publiziert wurde: Mediziner in Europa entsprächen immer öfter dem Wunsch von unheilbar Krebskranken nach vorzeitiger Beendigung ihres Lebens - im gesetzlichen Rahmen.

Studienleiterin Agnes van der Heide von der Erasmus Uni Rotterdam analysierte Daten von mehr als 20.000 Todesfällen in Dänemark, Italien, Schweden und der Schweiz sowie in Belgien und den Niederlanden, wo auch aktive Sterbehilfe legal ist. Das Ergebnis: Bereits zwei Drittel resultieren aus einer Nichtfortsetzung der Behandlung - "passive Sterbehilfe" etwa durch das Abschalten von lebenserhaltenden Geräten - oder aus der Verabreichung so hoher Dosen Schmerzmittel, dass diese schlussendlich die Atmung der Patienten lähmen - "indirekt aktive Sterbehilfe".

Das British Medical Journal veröffentlichte schließlich eine Studie über einen viel diskutierten Aspekt der aktiven Sterbehilfe. Nikkie Swarte von der Medizinischen Uni Utrecht erstellte Psychogramme von Familienmitgliedern von rund 500 verstorbenen Krebspatienten. Und kommt zum Schluss, dass Angehörige von Menschen, die durch aktive Sterbehilfe ein vorzeitiges Lebensende finden, weit weniger psychische Störungen aufweisen als Familienmitglieder, deren Verwandte am "normalen" Krebstod sterben.

"Die Ergebnisse sind kein Plädoyer für aktive Sterbehilfe", schreibt Swarte, "sondern für dieselbe Aufklärung und Betreuung für Patienten, die ihr Leben nicht vorzeitig beenden." Die intensive Auseinandersetzung mit dem Ende, geführt von Patienten und Angehörigen vor Inanspruchnahme aktiver Sterbehilfe, mache den Tod für alle erträglicher.

Man wisse zwar wie viele Menschen woran sterben, nicht jedoch wie, fasst das Journal die Studien zusammen. Sehnsucht nach einem schönen Tod werde angesichts beängstigender Informationen über Krankheitsverläufe größer. Man müsse diesem Wunsch entsprechen und sich fragen, ob zur Verfügung stehende Mittel ausreichen.

In der Praxis stößt das Selbstbestimmungs- recht der Patienten öfters an Grenzen. Dort nämlich, wo es im Gegensatz zum Ethos der Mediziner steht. [Christian Kopetzki]

Die Ergebnisse sind kein Plädoyer für aktive Sterbehilfe, sondern für dieselbe Aufklärung und Betreuung für Patienten, die ihr Leben nicht vorzeitig beenden. [Nikkie Swarte] (Andreas Feiertag /DER STANDARD, Printausgabe, 6.8.2003)