Schlaganfall, Notoperation, dann die endgültige Diagnose: Hirntod. Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm der 31-jährigen Patientin funktionieren nicht mehr. Auch wenn ihr Herz noch schlägt, ist sie tot. Denn mit dem Ende aller messbaren Gehirnfunktionen ist der Mensch gestorben, so die medizinische Definition. Doch in ihrem Körper ist Leben, die Patientin ist schwanger.
Drei Monate nach dem diagnostizierten Hirntod entbinden Ärzte im Juli dieses Jahres an der Universitätsklinik im ungarischen Debrecen das Baby der Patientin. Das Kind ist in dem künstlich am Leben erhaltenen Körper seiner Mutter herangewachsen, wurde per Kaiserschnitt geboren und entwickle sich gut, wie das Krankenhaus in Debrecen vergangene Woche bekanntgab.
Der Fall wurde als medizinische Sensation gefeiert, war jedoch nicht der erste dieser Art: Bereits Anfang der 1980er-Jahre wurde in den USA erstmals ein Kind einer hirntoten Mutter geboren. In Deutschland meldete das Erlanger Universitätsklinikum 1992 einen solchen Fall. Der 16 Wochen alte Fötus starb jedoch aufgrund einer Fehlgeburt.
Wettlauf gegen die Zeit
In mehreren Fällen überlebten die Kinder hirntoter Mütter und konnten sich gut entwickeln. Hinter den Erfolgsmeldungen stehen jedoch oft bange Wochen, in denen Familienangehörige und Ärzte um den Zustand von Mutter und Fötus zittern müssen. Denn hirntote Patienten künstlich am Leben zu erhalten ist nicht einfach, der intensivmedizinische Aufwand, die Körperfunktionen der Betroffenen aufrechtzuerhalten, ist groß.
Und: Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der menschliche Organismus strebt dem Tod entgegen. Das Gehirn produziert keine Hormone mehr, lebenswichtige Funktionen werden nicht mehr koordiniert, Regulierung von Blutdruck, Körpertemperatur und Wasserhaushalt werden eingestellt. Schwankt der stabile Zustand der Mutter, besteht Gefahr für den Fötus.
Defizit beim Wachstum
Da der zentrale Atemantrieb bei hirntoten Patienten nicht mehr vorhanden ist, übernimmt eine Maschine die Beatmung. Durch Kreislauftherapie, künstliche Ernährung und Hormonersatz können die Grundfunktionen des Körpers und damit auch des Uterus aufrechterhalten werden. Der Fötus kann sich so weiterentwickeln.
Dass diese Entwicklung unter Umständen problematisch sein kann, weiß Berndt Urlesberger, Leiter der Klinischen Abteilung für Neonatologie am Grazer Universitätsklinikum. "Vor allem durch die künstliche Ernährungssituation kann es zu einem Defizit beim Wachstum kommen", sagt Urlesberger.
Mehrere Studien weisen außerdem darauf hin, wie wichtig es für die Entwicklung des Fötus ist, die Stimme der Mutter zu hören und ihre Bewegungen zu spüren. Der Neonatologe sieht hier jedoch kein Problem bei den Kindern hirntoter Patientinnen: "Bei Risikoschwangerschaften liegen die Mütter auch oft wochenlang im Bett und bringen am Ende gesunde Säuglinge zur Welt."
Negative Auswirkungen auf das Kind kann auch der Unfall haben, der zum Hirntod der Mutter geführt hat. "Durch die wahrscheinliche Kreislaufunterbrechung ist der Fötus gefährdet, da die Versorgung zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht ist", sagt Martin Wald, Vorstand der Division für Neonatologie des Salzburger Universitätsklinikums. Neurologische Schäden oder gar der Tod des Kindes können die Folgen sein.
Ethisches Minenfeld
Hirntote Schwangere künstlich am Leben zu erhalten ist ethisch umstritten. Nach dem Bekanntwerden des Falles an der Erlanger Universitätsklinik brach in Deutschland öffentliche Empörung über die Vorgehensweise der Mediziner aus, sozialdemokratische Politikerinnen warnten davor, tote Frauen als "Gebärkörper" zu missbrauchen.
"Grundsätzlich geht es darum, die Persönlichkeitsrechte der Mutter abzuwiegen gegen das Recht des Kindes auf Leben", erklärt Peter Husslein, Vorstand der Medizinischen Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Wien. So wurde in Deutschland öffentlich diskutiert, ob es die Menschenwürde einer toten Frau erlaubt, dass ihr Körper zur Austragung eines Kindes genutzt wird.
Ein weiterer Graubereich ist der strafrechtliche Aspekt: Lebt der Fötus einer hirntoten Patientin, bei der Ärzte die Beatmungsmaschine abdrehen, so komme das einer Kindstötung gleich, lautet die eine juristische Meinung. Das andere Lager betrachtet einen solchen Fall nicht als Schwangerschaftsabbruch, daher sei auch kein Strafrechtsdelikt gegeben.
Für Husslein stellt sich vor allem die Frage nach dem Fortschritt der Schwangerschaft. "In der pragmatischen Handhabe gilt: Je früher die Schwangerschaftswoche, desto stärker wiegen die Rechte der Mutter und desto schwächer die des Kindes." So hält er es für weniger sinnvoll, eine hirntote Frau in der 18. Woche der Schwangerschaft weiterhin künstlich zu beatmen. Ist die Schwangerschaft weiter fortgeschritten, so würden die Rechte des Fötus schwerer wiegen: "Wenn sich die Patientin bereits in der 36. Woche befindet, sind auch die Überlebenschancen für das Kind realistischer", sagt Husslein.
Irreversibles Sterben
Als problematisch gilt für manche Mediziner auch das Konzept des Hirntods, sie stellen diesen als Definition vom Ende des Lebens infrage. Der Ausfall aller messbaren Hirnfunktionen bedeute, dass der Mensch neurologisch, nicht aber biologisch tot sei. Einige Körperfunktionen bestehen bei hirntoten Patienten fort, solange sie beatmet werden: Haare und Nägel wachsen weiterhin, der Darm wandelt Nahrung in Stuhl um. Die Spermaproduktion der Männer hält an, und bei Frauen kann eben eine Schwangerschaft aufrechterhalten werden.
So fordern einige Mediziner, Hirntote als "irreversibel Sterbende" zu bezeichnen. Irreversibel, also unumkehrbar, denn die Rückkehr ins Leben gilt für sie als unmöglich.
Letzte Station
Die verwehrte Rückkehr ins Leben ist es auch, was die bittere Seite der Erfolgsgeschichten ausmacht. Nach wochen- oder monatelangen Kämpfen gelingt hoffentlich die Geburt eines gesunden Kindes - für die hirntote Mutter war das jedoch die letzte Station. Die Beatmungsmaschinen werden abgedreht, in Österreich werden, wenn möglich, Organe entnommen und transplantiert, denn hierzulande gilt die Widerspruchregelung: Jeder ist Organspender, wenn er keine Widerspruchserklärung unterschrieben hat.
Dem meist zu früh geborenen Kind einer Hirntoten stehen dann einige Wochen intensiver medizinischer Pflege bevor. "Vor allem die Organsysteme, die der Säugling im Mutterleib noch nicht angewendet hat, können Probleme machen", erklärt Neonatologe Wald. Komplikationen bei Lunge und Darm können meist gut gelöst werden, kritischer ist die Situation beim Gehirn. Denn im letzten Abschnitt der Schwangerschaft entwickelt sich das Organ stark weiter, weshalb Frühgeborene oft mit einem unreifen Hirn zur Welt kommen. "Das Risiko für Blutungen ist groß, dabei können Teile des Gehirns geschädigt werden", sagt Wald. Die Folgen können Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen sein.
Grundsätzlich haben Frühchen heute jedoch gute Überlebenschancen: Ab der 24. Schwangerschaftswoche gelten sie als gut lebensfähig. Mehr als 80 Prozent aller zu früh geborenen Kinder kommen durch, ein Viertel von ihnen muss allerdings mit leichten bis schweren Beeinträchtigungen leben. (Sarah Dyduch, derStandard.at, 20.11.2013)