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In der Schweiz wird die Frage nach dem "gerechten Lohn" derzeit heftig diskutiert.

 

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Marco Kistler, der 28-jährige sozialistische Jung- und Kommunalpolitiker ist Erfinder der 1:12-Initiative.

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Die heuer mit großer Zustimmung angenommene Abzocker-Initiative beschert der Schweiz das strengste Aktionärsrecht der Welt. Der Schweizer Jungsozialist Marco Kistler gibt sich damit nicht zufrieden, weil ihm Aktionärsdemokratie nicht reicht, wie er im derStandard.at-Interview sagt. Deswegen kommt am 24. November mit 1:12 eine weitere Initiative zur Abstimmung. Die Idee: Der Chef eines Unternehmens soll im Monat nicht mehr verdienen als die Putzfrau im ganzen Jahr.

derStandard.at: Herr Kistler, 12:1, ist das die Formel für den gerechten Lohn?

Marco Kistler: Dass das die Formel für den gerechten Lohn ist, würde ich nicht behaupten. Aber klar ist, dass es, wenn einige wenige 100 bis 200 Mal mehr verdienen als alle anderen, ungerecht ist. Und wo die Schwelle liegt, was akzeptabel ist, werden jetzt in der Schweiz die Stimmbürger entscheiden.

derStandard.at: Sie wollen, dass der Chef im Monat nicht mehr verdient, als die Putzfrau in einem Jahr. Wie sind Sie denn genau auf dieses Verhältnis gekommen?

Kistler: Da wurde viel und lange diskutiert. Die Formel von Jahr und Monat hat man als akzeptable Grenze empfunden. In der Schweiz war es ja lange so, dass niemand mehr als ein Bundesrat verdient hat. Das war so eine magische Schwelle. Die liegt im Moment etwa bei einem Verhältnis von 1:10. Es geht um einen Rahmen wie die Tempobeschränkung auf der Straße. Dort sagt man auch, was zuviel ist, ist gefährlich für die Gesellschaft und nicht mehr sinnvoll.

derStandard.at: Worauf zielen Sie ab? Auf die Verbesserung der Wirtschaftswelt und der ganzen Welt?

Kistler: Es geht um beides. Das ist ja auch sehr stark verknüpft miteinander. Es geht grundsätzlich auch um die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es geht auch um die Frage, welche Gesellschaft man will. Will man, dass die Leute zusammenarbeiten als Team und dann auch die Erfolge gerecht verteilt werden oder wollen wir, dass ein paar wenige oben versuchen, das alles an sich zu reißen und dass man viel mehr gegeneinander arbeitet.

derStandard.at: Und was machen wir mit den Unsummen, die in der Sport- und Kunstwelt hin- und herfließen? Oder mit den gewaltigen Beträgen, die für Topimmobilien ausgegeben werden?

Kistler: Das ist auch ein Punkt, wo es Diskussionen gibt. Mit 1:12 löst man auch nicht alle Probleme auf einmal. Das wäre zu viel verlangt. Wir haben uns jetzt einmal auf die Frage der Löhne fokussiert. Da ist in den letzten zehn, zwanzig Jahren auch die Entwicklung sehr extrem gewesen.

derStandard.at: Die Schweizer Abzocker-Initiative fand bei den Schweizern hohe Zustimmung. Damit bekommt die Schweiz das schärfste Aktienrecht der Welt. Hat Sie das hohe Ausmaß an Befürwortern in der Bevölkerung überrascht?

Kistler: Nein. Ich habe damit gerechnet. Der Unmut in der Bevölkerung ist sehr groß über die wenigen Manager, die sich diese sehr hohen Gehälter auszahlen und sich diese auch zuschanzen. Die Leute möchten, dass sich daran etwas ändert.

derStandard.at: Ihnen reicht das noch nicht. Das Wirtschaftsklima in Ihrer Heimat wird damit wohl auch düsterer, weil der Spielraum für die Unternehmen viel kleiner wird. Kann man das in Zeiten wie diesen gutheißen?

Kistler: Uns geht es nicht nur um Aktionärsdemokratie, sondern um wirkliche Demokratie und dass auf der Gesetzesebene auch über Wirtschaft und die Rahmenbedingungen, wo das stattfinden soll, diskutiert werden kann. 1:12 ist ein sehr großer Spielraum. Wenn man sich das einmal ausrechnet, was da Chefs noch verdienen können, dann kann jeder damit durchkommen. Das ist ein Superlohn, wo man sich sämtliche Wünsche, die man hat, erfüllen kann.

derStandard.at: Motivierte Firmenchefs wie der Ex-Novartis-Präsident Daniel Vasella verlassen allerdings die Schweiz. Was würde einem Herrn Vasella nach Ihrer Formel zustehen?

Kistler: Wir wissen leider nicht genau, wie hoch oder niedrig die tiefsten Löhne sind. Da ist ganz generell sehr viel Intransparenz bei den Löhnen in der Schweiz. Aber das dürfte sich so um die 700.000 bis 800.000 Franken im Jahr herum bewegen.

derStandard.at: Und so etwas wie eine 70-Millionen-Abfindung, die Herr Vasella dann wegen des großen öffentlichen Drucks nicht bekommen hat, würde es gar nicht geben?

Kistler: Nein, das würde es nicht mehr geben.

derStandard.at: Sie sind noch keine 30. Es klingt, als wollten Sie mit der 1:12-Initiative zurück in eine bessere Vergangenheit. Die Zeiten haben sich aber in jeder Hinsicht kräftig geändert. Novartis konkurriert etwa mit Unternehmen auf der ganzen Welt und schlägt sich dabei sehr gut. Müssen Sie sich da nicht den Vorwurf der Realitätsverweigerung und Abgehobenheit gefallen lassen?

Kistler: Da sind wir natürlich mitten im Problem der Demokratie und der Nationalstaaten und wo sich der demokratische Spielraum noch bewegt. Der wurde natürlich tatsächlich in den letzten Jahrzehnten durch die Globalisierung und die internationalen Märkte, die immer stärker wurden und denen man irgendwie auch huldigt, eingeschränkt.  Für uns als Sozialdemokraten ist es nicht akzeptabel, dass die Demokratie ausgehebelt wird, indem man einfach sagt, das ist jetzt alles international und da hat man nichts mehr zu entscheiden. Wir finden, es ist an uns – und dank des Initiativrechts können wir das in der Schweiz – solche Regeln zu erlassen. Selbstverständlich hoffen wir – wenn 1:12 angenommen werden würde –  dass das möglichst viele Nachahmer findet.

derStandard.at: Die Schweizer Wirtschaft schlägt sich recht gut. Auch jetzt in der Krise. Haben Sie keine Angst, dass sich das in einem wirtschaftsfeindlichen Klima rasch ändern könnte?

Kistler: Ich denke nicht, dass die Unternehmen in der Schweiz sind, weil sie da die höchsten Löhne der Welt zahlen können. Sondern auch wegen der Infrastruktur und der sozialen Sicherheit. Der Punkt, wie stabil ist eine Gesellschaft, wird in Zukunft auch immer wichtiger werden. Das könnte sich also für die Schweiz eher als positiver Faktor entwickeln. Es ist ja auch jetzt schon so, dass sehr viele gut ausgebildete und gut bezahlte Fachkräfte zu uns kommen. Die verdienen nicht über 1:12 und sind gerne bereit, bei uns zu arbeiten. Und wenn ganz oben nicht mehr so hohe Löhne gezahlt werden, wird gespart. Was mit dem Geld passiert, entscheiden die Unternehmen. Das kann reinvestiert werden – vielleicht auch in die niedrigeren Löhne.

derStandard.at: Da drängt sich dem einen oder anderen sicher auch der Verdacht auf, dass es sich um eine reine Neiddiskussion handelt.

Kistler: Naja, eine allein erziehende Mutter, die jeden Morgen um sechs Uhr aufsteht, das Kind zur Betreuung bringt und den ganzen Tag arbeiten geht, um am Abend das Kind zu versorgen und müde ins Bett zu fallen, die würde sich sicher auch einen Lohn wünschen, mit dem sie vielleicht sogar einmal in den Urlaub fahren kann. Klar, dass man in dieser Situation auch etwas neidisch auf die Top-Verdiener schaut. Aber für den ganz großen Teil geht es nicht um Neid, sondern um gesellschaftlichen Zusammenhalt, Unternehmen als Team, alle sollen leisten und alle Beteiligten davon profitieren.

derStandard.at: Also eigentlich geht es um die sehr große, sehr schwierige und nur im Konsens zu beantwortende Frage nach Gerechtigkeit.

Kistler: Richtig. Die Resonanz ist sehr groß, so groß, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. (Regina Bruckner, derStandard.at 18.11.2013)