"Ich hatte die Vorstellung, dass ich die Partie kenne. Aber ich bin draufgekommen, dass man eigentlich nur die Tradition kennt." Benjamin Bruns über Tamino; Chen Reiss (Pamina) stimmt zu.

Foto: Christian Fischer

Wien - Dass Pamina zu spät kommt, ist nicht ihre Schuld. Nach einer der letzten Proben vor der Premiere von Mozarts Zauberflöte an der Wiener Staatsoper wird Chen Reiss noch vom Regieduo Leiser/ Caurier intensiv gebrieft, da sie erst kurzfristig in den laufenden Arbeitsprozess eingestiegen ist.

So beginnt der Termin im Besprechungszimmer neben der Direktion mit lockerem Warm-up, bei dem Benjamin Bruns etwa erzählt, wie sehr ihn im Sommer bei den Bayreuther Festspielen die ohrenbetäubenden Gewehrsalven von Siegfried in der Ring-Regie von Frank Castorf erschreckt hatten, zumal es im Vorfeld jener Probe, wo er als Zuschauer dabei war, keinerlei Warnung gegeben hatte.

Vom Kebabstand, der dort auf der Bühne stand, ist es dann nur noch eine kleine kulinarische Assoziation zur Zauberflöte, wo Papageno mit Wein und Speisen verwöhnt wird, während Tamino standhaft bleiben und fasten muss: "Bei manchen Inszenierungen gibt es ein echtes halbes Hendl. Wenn das dann auch noch so frisch und warm dampft, würde ich manchmal auch gern selbst hineinbeißen ..."

Dann geht die Tür auf, und Pamina rauscht herein: Chen Reiss hat israelische Wurzeln, studierte in New York und war Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper. An der Wiener Staatsoper debütierte sie 2009 als Sophie (Rosenkavalier). So wie für Bruns, der als Alt-Solist im Knabenchor seiner Heimatstadt Hannover begann und seit der Saison 2010/11 zum Ensemble der Staatsoper gehört, handelt es sich auch für sie um eine bereits mehrfach erprobte Partie.

Haben die beiden dennoch besonderen Respekt vor diesen besonderen Rollen? Reiss: "Als ich in die Produktion eingestiegen bin, hatte ich nicht einmal eine Minute zum Denken, weil einfach so viel zu tun war in einer kurzen Zeit. Da denkt man gar nicht an Angst oder so, sondern man funktioniert nur einfach."

Bruns stimmt seiner Kollegin in diesem Punkt völlig zu: "Selbst wenn man sich vorher Gedanken gemacht hatte, war dann eh alles obsolet, weil Moshe Leiser von Beginn an eine so definitive Vorstellung von der ganzen Oper hatte, dass man sich eigentlich völlig fallen lassen konnte."

Gewandelte Sichtweisen

Das Gespräch dreht sich viel um die Regie, auch von musikalischen Fragen gelangen die beiden Sänger schnell wieder zur Szene. Denn beide haben aufgrund der Arbeit mit Moshe Leiser und seinem Compagnon Patrice Caurier das Gefühl, dass sich ihre Sichtweisen der Partien grundlegend gewandelt haben.

Reiss: "Es ist eine ganz außergewöhnliche Arbeit. Leiser verlangt ausgesprochen viel von uns und konfrontiert uns immer wieder mit der Frage, was es eigentlich bedeutet, wenn die Figur etwas Bestimmtes sagt. Daher habe ich die Pamina völlig neu entdeckt."

Bruns, der den Tamino bereits wesentlich öfter gegeben hat und vor 20 Jahren einer der drei Knaben war, pflichtet bei: "Ich bin eigentlich schon mit der Vorstellung in die Proben gegangen, dass ich die Partie nach 100 Vorstellungen Zauberflöte kennen würde. Aber ich bin durch die Probenarbeit draufgekommen, dass man nur eine bestimmte Tradition kennt, aber nicht das Stück. Leiser geht völlig vorurteils- und traditionsfrei heran - und schaut genau auf den Text. So kann man auch an diesen Figuren neue Facetten entdecken. Das Lernen ist noch lange nicht vorbei."

Überhaupt, wenn man es in diesem Stück auch mit den Dialogen genau nimmt: "Die Zauberflöte ist ja nicht nur eine Oper, sondern ein Singspiel", betont die Sopranistin: "Der Text ist genauso wichtig wie die Musik. Und der Wechsel vom Sprechen zum Singen ist immer eine Herausforderung."

Beide Sänger schildern wortreich, wie sie ihre Figuren inzwischen einschätzen und sagen wie aus einem Munde, es sei der Regie und nunmehr auch ihnen wichtig zu zeigen, dass die beiden Charaktere ganz junge Menschen seien, dass Tamino anfangs ganz orientierungslos ist und nicht sofort gut Freund mit Papageno. Dass Pamina ein Martyrium durchmacht. Und dass es wichtig sei, dass sie alle Erfahrungen in diesem Stück das erste Mal machen.

Deutliche Vorstellung

Leicht sei die Arbeit nicht gewesen, wie Bruns andeutet: "Das Schlimmste für den Regisseur ist, wenn man etwas nur so macht, weil man es schon immer so gemacht hat. Die Arbeit wurde dadurch nicht unbedingt vereinfacht, aber sehr interessant. Leiser hat sehr deutliche Vorstellungen, aber man kann sich sehr wohl einbringen, wenn man es ihm plausibel macht." Über den Dirigenten Christoph Eschenbach, der seinerseits für eine bestimmte Tradition steht, meint er: "Ich würde nicht sagen, dass es historisch informiert ist, sondern eher traditionell. Aber er nimmt keine gemächlichen Tempi und findet eine gelungene Mischung zwischen beiden Wegen." Reiss wiederum findet es "wunderbar, dass er absolut auf uns eingeht. Aber er sagt auch genau, was er will. Überhaupt ist es eine Freude, mit beiden zu arbeiten. Da gibt es keine Skandalgeschichten zu erzählen."

Das Unangenehmste, so Bruns, sei gewesen, wenn der Regisseur den Sängern einen Spiegel vorgehalten habe und ihnen gezeigt habe, wie sie gerade spielen. Und Reiss fasst das Ergebnis des Probenprozesses so zusammen: "Man versteht die Figuren viel besser und singt daher auch die Arien anders. Hoffentlich besser." (Daniel Ender, DER STANDARD, 16.11.2013)