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Tatort Bücherlager. Aus dem Fenster in der sechsten Etage schoss Lee Harvey Oswald.

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Der Konvoi mit John F. Kennedy, Sekunden vor ...

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... und nach dem Attentat.

Foto: AP/Newman

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Das Ehepaar Newman, das sich schützend über seine Kinder wirft.

Foto: Reuters

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Die Vereidigung von Lyndon B. Johnson (neben ihm Witwe Jacqueline Kennedy) an Bord der Air Force One.

Interaktive Timeline: Schüsse auf John F. Kennedy

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JFK: Ein Berliner mit irischen Wurzeln.

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Es fing am Flughafen Love Field an, wo ein dichter Pulk Schaulustiger auf das Glamourpaar John und Jacqueline Kennedy wartete – Jack und Jackie, wie Bill Newman sie nennt. "Wir waren spät dran", erinnert er sich. Den zweijährigen Clayton auf dem Arm, konnte er sich selbst irgendwie durchdrängeln; aber seine Frau Gayle, mit dem dreijährigen Billy auf den Schultern, sah praktisch nichts. Die Newmans überlegten nicht lange. Bald saßen sie wieder im Auto. Bill parkte den Wagen hinter dem Texas School Book Depository, dem Schulbuchlager, dann eilten sie zur Main Street von Dallas. Weil das Jubelspalier dort zu dicht war, liefen sie die Elm Street hinunter, wo sich die Menge zu lichten begann.

So kam es, dass sie direkt an der Gehsteigkante Platz fanden, im Rücken ein flacher Hang, Grassy Knoll. Plötzlich fielen Schüsse. Als Panik ausbrach, als die Staatskarossen davonrasten und alles panisch durcheinanderrannte, warfen sich Bill und Gayle auf der Wiese schützend über ihre Söhne. Es war ein Bild, das um die Welt ging.

Kurz zuvor hatte Gayle den Buben noch zugerufen, sie sehe Onkel Steve, sie sollten ihm zuwinken, dem Polizisten, der die Kolonne auf seinem Motorrad anführte. Die ersten beiden Schüsse hielt Bill noch für Silvesterknaller. Erst als die Limousine näherkam, sah er, dass etwas nicht stimmte. Das Hemd des texanischen Gouverneurs John Connally, der vor Kennedy saß, zeigte Blutspuren. Und jetzt: Die dritte Kugel – die tödliche Kugel.

Bill sah Fetzen durch die Luft fliegen, etwas Undefinierbares, er sah die First Lady in ihrem rosafarbenen Kostüm nach hinten klettern und glaubte zunächst, sie wolle flüchten – erst später erfuhr er, dass Jacqueline Kennedy Fragmente vom Schädel ihres Mannes einzusammeln versuchte. "Mein Gott, sie haben Jack erschossen!", hörte er sie schreien.

Im nächsten Moment stießen Bill und Gayle ihre Söhne ins Gras und legten sich flach hin. "Wir hatten furchtbare Angst, ins Kreuzfeuer zu geraten" , erzählt die Mutter. Merkwürdig fand sie, dass im Nu Fotografen auf sie zustürzten. "Ich dachte: Mein Gott, was für Idioten! Kapieren die denn nicht, dass wir alle Zielscheiben sind?"

Keine Märchenerzähler

Es ist nicht das erste Mal, dass die Newmans vom Mord am Präsidenten erzählen. Doch zum ersten Mal tun sie es im Quartett, wobei sich Billy und Clayton eigentlich nur daran erinnern, dass sie zu klein waren, um sich an irgendwas erinnern zu können. Ein bisschen verlegen sitzen die vier im matt beleuchteten Saal des Sixth Floor Museum. Kleine Leute, konservatives Texas. Solche Leute erzählen keine Märchen. Schließlich fragt jemand, warum man das Kapitel nicht endlich abhakt und Ruhe gibt. "Denken Sie bloß an Abraham Lincoln" , antwortet Bill lächelnd. "Das Attentat von 1865 wird noch immer erforscht!"

Ein Phänomen ist es schon. Es ist alles gesagt: Seit 50 Jahren wird der Fall aus allen Perspektiven beleuchtet– und doch scheint es so, als würden Jahrestage zum Gedenken an die verklärte Lichtgestalt JFK heute mit noch größerem Aufwand begangen als früher. Dallas, der 22. November 1963: Damit verbindet sich ein nationales Trauma. Eines dieser Schreckenserlebnisse, das man live verfolgen konnte. So wie den 11. September 2001, als das zweite Flugzeug ins World Trade Center krachte. Oder 1986, als die Raumfähre Challenger explodierte. Es sind Tage, von denen jeder Amerikaner weiß, wo er war, als es geschah.

Julian Read saß im Pressebus schräg hinter dem Fahrer, weitgehend ahnungslos, minutenlang nicht einmal bruchstückhaft informiert – es gab ja keine Handys, geschweige denn Twitter. Der alte Mann redet geschliffen, man merkt, dass es einmal sein Job war, Politik zu verkaufen. 1963 war er Sprecher des Gouverneurs – und wenn einer Details der präsidialen Reise nach Texas schildern kann, dann ist es Read.

Dallas, blendet Read zurück, galt als heikles Pflaster. Rechte Hardliner verdächtigten Kennedy, heimlich mit dem Kreml zu sympathisieren. Am 24. Oktober 1963 wurde Adlai Stevenson, Amerikas UN-Botschafter, in Dallas angespuckt, und dann schlug ihm eine Frau ihr Protestplakat auf den Kopf. Am Morgen des fatalen 22. November sprach Kennedy, so zitiert ihn der Historiker William Manchester, vom "nut country" , dem Land der Verrückten. Nur: Jack habe eben auch Geld für den nächsten Wahlkampf sammeln wollen, erzählt Read. Von San Antonio ging es über Houston und Fort Worth nach Dallas, ehe Austin als letzte Station auf dem Programm stand.

Hätte Kennedy bloß Dallas ausgelassen, wäre er doch gleich nach Austin geflogen! Wäre am Morgen die Sonne bloß nicht durch die Wolken gebrochen! Hätte es nur weiter genieselt! Die Personenschützer hätten das "bubble top" , ein Plastikdach, über die offene Staatskarosse gespannt, und der Angreifer hätte schlechter zielen können. Jim Lehrer, ein altgedienter TV-Anchorman, widmete allein der Sache mit dem Autodach und den Selbstvorwürfen eines depressiv gewordenen Bodyguards, einen ganzen Roman. Hätte, wäre, wenn, aber – es ist eine Geschichte im ewigen Konjunktiv.

Über all dem schwebt der anhaltende Zweifel, dass ein einzelner Schütze wirklich in der Lage gewesen sein soll, dreimal in Folge auf den Präsidenten zu feuern. "Drei Schüsse in nur 8,4 Sekunden? Mit einem Gewehr von 1940? Von dort oben? Das glaubt doch kein Mensch!" , sagt John Rollins. Der Möbeltischler war einmal bei der Militärpolizei, mit Flinten kennt er sich aus. "Oswald war doch nur der Sündenbock."

Lee Harvey Oswald – der beim Militär zum Scharfschützen ausgebildet wurde, in der UdSSR Asyl suchte und in Minsk Marina Prusakowa heiratete, bevor er in die USA zurückkehrte, wo die Ehe de facto in die Brüche ging – hatte sich in der sechsten Etage des Schulbuchlagers verschanzt. Seine Mannlicher-Carcano mit Zielfernrohr hatte er per Katalog in Chicago bestellt. Eine Sonderkommission, geleitet von Earl Warren, erklärte die Einzeltäterthese 1964 nach zehnmonatigen Untersuchungen zur einzig plausiblen. Drei Kugeln seien abgefeuert worden, alle von Oswald, stand im Abschlussbericht.

Der vierte Schuss

Die erste Kugel verfehlte ihr Ziel. Die zweite traf Kennedy im Nacken, trat in Höhe seines Krawattenknotens wieder aus, flog in die Schulter Connallys, streifte sein Handgelenk und blieb schließlich im linken Oberschenkel des Gouverneurs stecken. Die dritte ließ Kennedys Kopf buchstäblich explodieren – zumindest wirkt es so im Film von Abraham Zapruder, der hinter den Newmans auf dem Grassy Knoll stand, stolz seine neue Kamera ausprobierte und das Attentat dokumentierte.

Doch an der Börse der Mordkomplotte wird munter weiterspekuliert. Nicht nur, dass ein Kongressausschuss in den späten 1970ern Akustikexperten vorlud, die eindeutig zu hören glaubten, dass auch ein vierter Schuss fiel. Nicht nur, dass bestimmte Geheimdokumente jenes Komitees erst 2029 freigegeben werden dürfen.

Auch Bill Newman hatte damals den Eindruck, als sei die tödliche Kugel über den Grassy Knoll geflogen, von der Seite auf die Staatslimousine zu, nicht schräg von hinten, wo Oswald am Eckfenster stand. "Nun, in dem Punkt bin ich korrigiert worden. Aber es ändert nichts daran, wie meine erste Wahrnehmung war."  Während die Verschwörungstheoretiker auf ihren Thesen beharren, räumt Newman ein, er könnte sich getäuscht haben. "Ich hatte einen Tunnelblick, meine Augen waren auf Kennedys Wagen fixiert, ich konnte gar nicht genau mitbekommen, was um mich herum geschah."

Dealey Plaza, das klingt nach urbanem Chic. Dabei handelt es sich um eine einfache Rasenfläche, gesäumt von weiß angestrichenem Beton – heute kaum anders als damals. Auf dem Asphalt Kreuze an den Stellen, an denen JFK getroffen wurde. Dahinter backsteinrot das Texas School Book Depository. Es gab eine Zeit, da schienen die Bürger von Dallas zu glauben, sie könnten die Erinnerung auslöschen, wenn der Tatort plattgewalzt würde. 1970 zog das Schulbuchlager aus, knapp zehn Jahre später wurde das Haus vor den Baggern gerettet, von einem Beamten namens Judson Shook.

Tatort wird zum Museum

1989 öffnete in der sechsten Etage ein Museum, anfangs heftig umstritten. "Viele sagten, Kennedy hat das Gebäude nie auch nur betreten. Wie kann es da ein Memorial zu Ehren Kennedys sein?" , fragt Stephen Fagin, Kurator des Sixth Floor Museum. "Heute ist es keine Frage mehr, dass man die Schauplätze solcher Tragödien erhält und sie nicht nur dem Verlust widmet, sondern auch der Erneuerung, die dem Verlust folgt. Wir sind da Vorreiter."

Das klingt nach Neuerfindung, sehr amerikanisch. Es gibt aber auch Stimmen, die an der amerikanischen Lernfähigkeit zweifeln. "Ob so etwas wieder passieren kann? Ich fürchte, es wird wieder passieren" , meint Read. "Wir sind eine gewaltbereite Gesellschaft. Wer immer sich in einer Machtposition befindet, hat Leute gegen sich, die ihn nicht mögen."

Bei Dr. Ronald C. Jones sind die Bürowände geradezu tapeziert mit Urkunden. Der Chirurg ist spezialisiert auf die Behandlung von Schusswunden – das war er schon vor fünf Jahrzehnten, damals erst 31 und doch schon anerkannter Fachmann im Parkland Hospital. So zufällig wie die Newmans zu Zeitzeugen wurden, so unfreiwillig war Jones fortan mit dem Kennedy-Mord verbunden.

Als Oswald auf den Präsidenten anlegte, saß der Mediziner in der Kantine. Er wurde alarmiert und rannte in die Notaufnahme, Traumaraum eins, wo Kennedy bereits lag. Der Chirurg Dr. Malcolm Perry entschied sich für einen Luftröhrenschnitt, während Jones versuchte, eine Kanüle in eine Vene am Arm zu legen, damit der Patient an den Tropf gehängt werden konnte. Bald, erinnert er sich, drängten sich 15 Ärzte und Schwestern in dem kleinen Raum.

Nach fünf bis sechs Minuten sei allen klar gewesen, dass es keinen Zweck hatte: Kennedy zeigte kein Lebenszeichen mehr. Man habe noch erwogen, den Brustkorb zu öffnen und sein Herz zu massieren, aber da habe Dr. Kemp Clark, der Chefchirurg, mit resignierenden Handzeichen zu verstehen gegeben: Nichts mehr zu machen. "Dann, nach zehn, höchstens zwölf Minuten, war alles vorbei."  Jones ging hinaus auf den Flur, wo ihn zwei Beamte, der eine vom FBI, der andere vom Secret Service, mit Fragen bestürmten.

Kennedy lebte nicht mehr, doch Jackie hatte die Ärzte gebeten, ihn erst für tot zu erklären, wenn ein Priester das letzte Gebet gesprochen hatte. "Also habe ich denen da draußen nur gesagt: ‚Es geht dem Präsidenten nicht gut.'"

Zwei Tage später lag dann Oswald auf Jones' OP-Tisch: Der Nachtklubbesitzer Jack Ruby hatte auf ihn geschossen. Wieder dieselbe Prozedur: Kanüle legen, Tropf vorbereiten. Doch Oswald lebte noch eineinhalb Stunden, bevor er den Verletzungen erlag.

Jones ist ein solider Zeuge; einer, der strikt bei seinem trockenen Medizinerduktus bleibt und auf Melodramatik verzichtet. Stoisch korrigiert er, was Hollywood aus dem Ringen um JFKs Leben macht. In Parkland, dem neuesten Streifen, sind die Ärzte blutverschmiert. "Nicht korrekt" , sagt Jones. "Der Patient war schon so gut wie tot. Sein Körper konnte kein Blut mehr pumpen."  Kommt man ihm mit dem Konjunktiv – Was, wenn die Medizintechnik auf dem heutigen Stand gewesen wäre? –, erwidert er mit absoluter Gewissheit: "Es hätte genauso geendet, keine Chance bei der riesigen Wunde am Hinterkopf."

Und wer sich die First Lady als aufgelöstes Nervenbündel vorstellt, dem stellt der Arzt seine eigene, wahre Beobachtung entgegen: Jackie Kennedy habe bewundernswert Haltung bewahrt, weder geschrien noch geweint. Sie sei sehr besorgt gewesen, aber auch unglaublich gefasst. "Mein Eindruck war: Sie wusste immer, dass es passieren konnte. Sie war darauf vorbereitet." (Frank Herrmann aus Dallas /DER STANDARD, 16.11.2013)