Durham - "Rotkäppchen" ist eines der bekanntesten Märchen der Brüder Grimm, die es in ihrer Sammlung "Kinder- und Hausmärchen" an 26. Stelle führen. Über eineinhalb Jahrhunderte hinweg hat es sich seine Popularität erhalten. In jüngster Vergangenheit ist der Stoff in abgewandelter Form von TV-Serien wie "Once Upon a Time" und "Grimm" sowie von mehreren Kino-Adaptionen aufgegriffen worden.
Anlass genug, sich näher mit den Ursprüngen des Märchens vom Mädchen, das im Wald dem "bösen Wolf" begegnet, zu befassen. Die Brüder Grimm haben für ihr Werk mündlich überlieferte Erzählungen gesammelt, die mitunter eine jahrhundertealte Tradition haben. Besonders lange reicht diese offenbar im Fall von "Rotkäppchen" zurück, wie britische Forscher herausfanden.
Sie adaptierten für ihre Untersuchung ein mathematisches Modell, das Biologen verwenden, um die Entwicklung verschiedener Arten zu untersuchen. Der Gedanke dahinter: So wie sich Spezies aus einem gemeinsamen Ursprung entwickeln, so spalten sich auch Erzählungen in unterschiedliche Versionen auf und verbreiten sich in neuen Regionen.
Evolution eines Märchens
Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschafter um den Anthropologen Jamie Tehrani von der Universität in Durham in der US-Fachzeitschrift "PLoS ONE". Der Untersuchung zufolge ist "Rotkäppchen" eng verwandt mit einem anderen Märchen aus der Grimm-Sammlung, nämlich "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein". Dessen Ursprung lässt sich den Forschern zufolge bis ins erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückverfolgen, die "Rotkäppchen"-Variante habe sich davon etwa 1.000 Jahre später abgespaltet.
Tehrani untersuchte 58 Varianten der Geschichte. Er konzentrierte sich dabei auf 72 Variablen und verglich etwa, ob es sich beim Hauptcharakter um ein Mädchen, einen Buben oder um Geschwister handelt, ob der Bösewicht in Gestalt eines Wolfes, eines Tigers oder eines anderen Tieres auftritt und ob der Protagonist am Ende gerettet wird oder nicht.
Keine chinesische Erfindung
Laut Tehrani fanden sich Hinweise auf ältere mündliche Überlieferungen aus dem heutigen Frankreich, Österreich und Norditalien. Abwandlungen der Geschichte werden auch in Afrika und Asien erzählt.
Vermutungen, wonach "Rotkäppchen" über China den Weg nach Europa gefunden habe, wiesen die Forscher hingegen zurück. "Meine Untersuchungen zeigen, dass die chinesische Version der europäischen mündlichen Überlieferung entstammt und nicht umgekehrt", erklärte Tehrani. Die chinesische Variante samt ihrer "Tiger-Großmutter" sei eine Mischung aus "Rotkäppchen", "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" sowie lokalen Erzählungen. (APA/red, derStandard.at, 15. 11. 2013)