Es waren bis zu 100.000 Briefe und Postkarten täglich, die italienische Kriegsgefangene während des Ersten Weltkriegs aus Österreich in ihre Heimat schickten. Wie wir heute wissen, war ihre Behandlung in den Lagern alles andere als angenehm. Gerade deshalb durften sie nichts Schlechtes an ihre Angehörigen in der Heimat schreiben.

Wenn sie es dennoch taten, schritt die k. u. k. Zensurbehörde ein, deren Italienisch-Abteilung zumindest aus wissenschaftlicher Sicht höchst prominent besetzt war: Dort mussten nämlich der Wiener Biologe Paul Kammerer, der Sprach- und Literaturwissenschafter Leo Spitzer (beide auch deklarierte Kriegsgegner) sowie der Althistoriker und Archäologe Joseph Keil, der spätere Leiter der Ephesos-Ausgrabungen, ihren unfreiwilligen Militärdienst ableisten.

Linguistische Experimente

Gemeinsam mit seinen Kollegen machte Leo Spitzer das Beste daraus, nämlich eine Art linguistisches Laborexperiment. Der damalige Dozent der Uni Wien verfasste auf Basis des Textmaterials drei Bücher. In einem davon widmete er sich ausschließlich den Umschreibungen des Begriffs "Hunger", den die italienischen Kriegsgefangenen nicht verwenden durften, damit kein schlechtes Licht auf ihre Behandlung in den österreichischen Lagern fällt. Sprachwissenschaftern wie Bernhard Hurch von der Universität Graz gilt dieses Werk Spitzers als die erste diskursanalytische Studie überhaupt.

Paul Kammerer wiederum entwickelte in der Zensurabteilung weitere Ideen für innovative kulturwissenschaftliche und soziologische Forschungsprojekte, die aber nur ansatzweise realisiert werden konnten - wie etwa Analysen von Postkartenmotiven. Damit nicht genug, verfasste er als einer der ganz wenigen Dozenten der Universität Wien ab 1914 zahlreiche Essays gegen den Krieg.

Kammerers weiterer Karriere an der Universität Wien waren diese pazifistischen Aktivitäten nicht gerade förderlich: Leo Spitzer, einer der wichtigsten Sprach- und Literaturwissenschafter des 20. Jahrhunderts, ahnte längst, dass er als Jude und Sozialist an der Universität Wien chancenlos war. Also versuchte er es ab 1920 in Deutschland, wo er tatsächlich noch Professuren erhielt, ehe er nach 1933 flüchten musste.

Kammerer scheiterte 1919 mit seinem Antrag, eine unbezahlte ao. Titularprofessur zu erhalten. Schuld waren neben seinem Pazifismus wohl auch die jüdische Herkunft seiner Mutter und seine linken politischen Überzeugungen. Deshalb setzte sich sogar der Physiker und Pazifist Albert Einstein im Jahr 1920 dafür ein, dass Kammerer eine Professur in Zürich bekommen möge, da Kammerer als "Internationalist und Pazifist" auch in Deutschland wenig Aussichten habe. Einsteins Intervention blieb ohne Erfolg. (tasch, DER STANDARD, 13.11.2013)