Graz/Wien - "Die Menschen können sich wirklich existenzielle Dinge nicht mehr leisten", sagte Michael Lintner, Leiter der Abteilung für Basisversorgung in der steirischen Caritas. Die Hilfsorganisation hatte am Montag ins heuer erst eröffnete Marianum, ein Sozial- und Bildungszentrum der Caritas in Graz, zum Start einer Kampagne für sozial bedürftige Familien in Österreich geladen. Lintner und sein Chef, Caritas-Direktor Franz Küberl, schlagen Alarm ob der immer gravierender werdenden Situation österreichischer Familien. "Meine Mitarbeiter sind wirklich vor große Herausforderungen gestellt", erklärte Lintner, der vor allem in den letzten beiden Jahren, einerseits durch steigende Arbeitslosigkeit, andererseits aber auch durch die massiv steigenden Lebenserhaltungskosten, eine drastische Verschlimmerung bemerkt.

In der Steiermark sind aktuell rund 166.000 Menschen armutsgefährdet und etwa ein Viertel davon das, was man "manifest arm" nennt. In ganz Österreich sind bereits 1,2 Millionen armutsgefährdet (Quelle ASE Bundesländererhebung).

Dabei sind Familien mit Kindern ganz besonders bedroht, in Armut abzurutschen - selbst dann, wenn die Eltern Arbeit haben.

So zum Beispiel Herr F., den Küberl als Klienten der Caritas und anschauliches Fallbeispiel anführte. Herr F. arbeitet 40 Stunden pro Woche in einer Fabrik außerhalb von Graz. Seine Arbeit ist anstrengend, doch das Geld reicht trotzdem nicht für ihn, seine Frau und die drei Kinder. Wenn er Überstunden macht, kommt F. auf 1.600 Euro netto, sonst nur 1.200 Euro. Obwohl die Familie Wohnbeihilfe erhält, bleiben ihr nach Zahlung von Miete, Strom- und Heizkosten nur noch sechs Euro pro Kopf und Tag. Davon soll F. dann Lebensmittel und Kleidung kaufen, Schul- und Sonderausgaben sowie Nachzahlungen von Jahresstromabrechnungen bestreiten. Die Caritas-Wohnungssicherung half der Familie, indem sie die ausständige Septembermiete, die durch Mehrkosten für den Schulbeginn nicht bezahlt werden konnte, beglich.

F. ist aber kein Einzelfall. Vor allem bei Familien ab drei Kindern liegt die Armutsgefährdungsquote bei 25 Prozent. Selbst bei nur einem Kind steigt die Quote der Armutsgefährdung schon auf neun, bei zwei Kindern auf zwölf Prozent. Besonders schwer haben es Ein-Eltern-Haushalte, also Alleinerzieherinnen: Hier ist fast die Hälfte (47 Prozent) in Österreich armutsgefährdet.

Einen Unterschied macht es dabei, wie alt die Kinder sind. Grundsätzlich gilt - wenig überraschend: Je jünger die Kinder sind, umso größer ist die Armutsgefährdung der ganzen Familie, da jüngere Kinder intensiver zu betreuen sind. So haben Alleinerzieherinnen mit einem Kind unter drei Jahren sogar ein Armutsgefährdungsrisiko von 74 Prozent.

In diesem Zusammenhang verlangte Küberl den dringenden Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen und schulischer Ganztagesbetreuung von der Politik.

Für Frauen, die mit ihren Kindern nicht mehr weiterwissen, bietet die Caritas Steiermark im "Haus Elisabeth" Beratung und auch mittelfristig Versorgung und Unterbringung an. Auch hier steigt der Bedarf: Familienkrisen, Armut und Alkoholismus oder in weiterer Folge oft Delogierungen sind die häufigsten Gründe.

Aber auch durch Beschäftigungsprojekte fängt die Caritas immer öfter gerade Mütter auf. Etwa Frau K., Mutter von fünf Kindern, von denen das erste behindert ist und in einer betreuten Wohnform lebt. Das zweitälteste macht eine Lehre und ist vor ein paar Monaten ausgezogen. Frau K. war an Wohnkosten und Fernwärmenachzahlungen fast verzweifelt. Mit "nur" mehr drei Kindern schaffte sie es jetzt nach 20 Jahren "Erziehungspause", so Küberl, als Transitarbeitskraft wieder in einen Job einzusteigen.

Weitere Forderungen des Caritas-Chefs an die Politik, um die Zahl jener Kinder zu reduzieren, die in Armut aufwachsen müssen, sind: Mietobergrenzen, die Förderung von familienfreundlichen Betrieben, die Flexibilisierung der Mindestzuverdienstgrenzen bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung  und ein "existenzsicherndes Erwerbseinkommen", da immer mehr Menschen sogenannte Working Poor - ­ also arm trotz Jobs - sind.

Auch in Wien wird die Lage immer angespannter. "Im Jahr 2003 haben wir sicher noch nicht solche Familien betreut wie heute. Die Atmosphäre wird immer schlimmer. Die ganze Gesellschaft wird egoistischer", erklärte Melitta Ruiner, Caritas-Familienhelferin. Dass Armut vererbt wird, kann auch ihre Kollegin Ariane Schicho bestätigen: "Jene Kinder, die wir vor Jahren betreut haben, sind jetzt selbst Eltern. Und oft bei uns", erzählt sie. Beide Frauen sind seit Jahren in der Familienhilfe tätig - genauer in der sogenannten Familienhilfe Plus (Praktische Lebensunterstützung) der Caritas, die gerade ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Anders als die klassische Familienhilfe, die Müttern bei der normaler Haushaltsführung hilft, wenn sie etwa aus Krankheitsgründen ausfallen, geht es bei der Plus-Betreuung um die richtigen Problemfälle. Ruiner: "Wir versuchen, den Müttern Werkzeuge in die Hand zu geben, um das Leben zu meistern. Wenn nicht, kommt es meist zur Kindesabnahme."

"Wir treffen auf Multiprobleme"

Vom Jugendamt beauftragt, wird eine Familie mindestens ein halbes Jahr begleitet. Die Aufgaben? "Wir treffen auf Multiprobleme", erklärt Schicho. Die Väter sind meist weg. Oft sind es hygienische Missstände, Drogenprobleme und Überschuldung. Gewalt ist ein Problem, Misshandlung auch, verwahrloste Kinder mit kaputten Zähnen, die nicht in die Schule gehen, gefördert werden sie so und so nicht. "Manche, das muss man sagen, leben vom Geld, das sie für ihre Kinder bekommen", erzählt Ruiner.

29 Frauen und ein Mann gehen für die Wiener Caritas in solche Problemfamilien, je nach Schwierigkeitslage sind es drei bis sechs Familien, die von einer Mitarbeiterin betreut werden können. "Wir versuchen, Delogierung zu verhindern, und gehen mit den Leuten zur Schuldnerberatung", sagt Ruiner. Wenn das Kind nicht in die Schule geht, wird es von der Betreuerin gebracht. Mit der Mutter, die das schließlich (wieder-)erlernen soll. Denn, so Schicho: "Wir machen alles mit den Eltern. Oft muss eine Tagesstruktur erarbeitet werden. Damit sie überhaupt aus dem Bett kommen." Der Wunsch der Familienhelferinnen: mehr Personal. (Peter Mayr, Colette M. Schmidt, derStandard.at, 11.11.2013)